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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Legföhren.
Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb solcher schrof¬
fen, viele hundert Fuß sich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen
sich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf diese
schreckerregenden Naturschaukeln hinaus und üben da, völlig
schwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatische Künste. Ein
solcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer
seiner Gemeinde darüber ernstlich zurechtgewiesen und mit den
Worten gewarnt: "Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im
Arm gehalten, sonst wärst du herabgestürzt und todtgefallen!" er¬
widerte keck: "Herr Pfarr, so wyt wi--n--i ussä goh, goht der
Schutzengel nöd!" --

Die Nadeln der Legföhre sitzen, wie bei der Kiefer, je zu
zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren sich büschelförmig,
wodurch der Zweig das Ansehen eines dichten, borstigen Pinsels
erhält. In ihrer Reproduktionskraft ist die Legföhre sehr schwach.
Da sie nicht ausschlagsfähig ist, so bewerkstelligt sie ihre Fortpflan¬
zung lediglich durch Samen.

Auch selbst in den Früchten der Legföhre bethätigt sich das
Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entspre¬
chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬
chen, konisch gestalteten Zapfen jährlich abstößt, behält die Legföhre
dieselben, nachdem sie im September fruchtreif geworden sind, den
Winter über, sammt den darin eingeschlossenen Samenkörpern am
Zweig und läßt letzteren erst im Spätfrühling, wenn der Boden
schneefrei geworden ist, ausfliegen. Der gesprungene, nun flach
sphärisch auseinander spreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt
dann aber noch einige Jahre am Büschel sitzen, bis er silbergrau
verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts,
daß man an einem und demselben Busche zu Anfang Juli männ¬
liche und weibliche orangengelbe, karminroth-punktirte Blüthenkätz¬
chen und die abgestorbenen, verwitterten Samenbehälter des dritt¬

Legföhren.
Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb ſolcher ſchrof¬
fen, viele hundert Fuß ſich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen
ſich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf dieſe
ſchreckerregenden Naturſchaukeln hinaus und üben da, völlig
ſchwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatiſche Künſte. Ein
ſolcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer
ſeiner Gemeinde darüber ernſtlich zurechtgewieſen und mit den
Worten gewarnt: „Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im
Arm gehalten, ſonſt wärſt du herabgeſtürzt und todtgefallen!“ er¬
widerte keck: „Herr Pfarr, ſo wyt wi—n—i uſſä goh, goht der
Schutzengel nöd!“ —

Die Nadeln der Legföhre ſitzen, wie bei der Kiefer, je zu
zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren ſich büſchelförmig,
wodurch der Zweig das Anſehen eines dichten, borſtigen Pinſels
erhält. In ihrer Reproduktionskraft iſt die Legföhre ſehr ſchwach.
Da ſie nicht ausſchlagsfähig iſt, ſo bewerkſtelligt ſie ihre Fortpflan¬
zung lediglich durch Samen.

Auch ſelbſt in den Früchten der Legföhre bethätigt ſich das
Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entſpre¬
chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬
chen, koniſch geſtalteten Zapfen jährlich abſtößt, behält die Legföhre
dieſelben, nachdem ſie im September fruchtreif geworden ſind, den
Winter über, ſammt den darin eingeſchloſſenen Samenkörpern am
Zweig und läßt letzteren erſt im Spätfrühling, wenn der Boden
ſchneefrei geworden iſt, ausfliegen. Der geſprungene, nun flach
ſphäriſch auseinander ſpreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt
dann aber noch einige Jahre am Büſchel ſitzen, bis er ſilbergrau
verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts,
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[93/0119] Legföhren. Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb ſolcher ſchrof¬ fen, viele hundert Fuß ſich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen ſich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf dieſe ſchreckerregenden Naturſchaukeln hinaus und üben da, völlig ſchwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatiſche Künſte. Ein ſolcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer ſeiner Gemeinde darüber ernſtlich zurechtgewieſen und mit den Worten gewarnt: „Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im Arm gehalten, ſonſt wärſt du herabgeſtürzt und todtgefallen!“ er¬ widerte keck: „Herr Pfarr, ſo wyt wi—n—i uſſä goh, goht der Schutzengel nöd!“ — Die Nadeln der Legföhre ſitzen, wie bei der Kiefer, je zu zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren ſich büſchelförmig, wodurch der Zweig das Anſehen eines dichten, borſtigen Pinſels erhält. In ihrer Reproduktionskraft iſt die Legföhre ſehr ſchwach. Da ſie nicht ausſchlagsfähig iſt, ſo bewerkſtelligt ſie ihre Fortpflan¬ zung lediglich durch Samen. Auch ſelbſt in den Früchten der Legföhre bethätigt ſich das Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entſpre¬ chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬ chen, koniſch geſtalteten Zapfen jährlich abſtößt, behält die Legföhre dieſelben, nachdem ſie im September fruchtreif geworden ſind, den Winter über, ſammt den darin eingeſchloſſenen Samenkörpern am Zweig und läßt letzteren erſt im Spätfrühling, wenn der Boden ſchneefrei geworden iſt, ausfliegen. Der geſprungene, nun flach ſphäriſch auseinander ſpreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt dann aber noch einige Jahre am Büſchel ſitzen, bis er ſilbergrau verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts, daß man an einem und demſelben Buſche zu Anfang Juli männ¬ liche und weibliche orangengelbe, karminroth-punktirte Blüthenkätz¬ chen und die abgeſtorbenen, verwitterten Samenbehälter des dritt¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/119>, abgerufen am 22.11.2024.