unternahmen. Diese sturmgebrochenen silbergrauen Denksäulen sind ausschließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige) Censurscheere des Forstmannes, das Paragraphenthum und die Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die rationelle Waldwirthschaft dürfte solch ehrwürdige Reliquien im wohlgeordneten Forsthaushalte nicht dulden, sie wären reglements¬ widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren nach Artikel und Vorschrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menschen verlangt. Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie Ausstrom der unerschöpflichen Schöpfungskraft, und diesem ver¬ danken auch die Grenzposten der Wettertanne ihre Existenz.
Eine Wettertanne (im Romanischen "Pin oder Sapins", im Waatlande "Gogant" genannt) ist also ein vereinzelt auf der Alpweide stehender Baum, der, wie schon aus seinem Namen her¬ vorgeht, ein ingründlich verwettertes Aussehen hat. Meist ists eine Tanne, deren schwere, weit ausreichende Astarme schon wenige Fuß über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis zur Krone sich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach gestal¬ ten; -- oft aber auch ists eine Baumfigur, die alle Gesetze des Tannenwuchses zu verspotten scheint. Unsere Abbildung zeigt das gänzlich Abnorme des Astbaues einer solchen. Während die frei¬ stehende Tieflandstanne an ihrem schlanken Säulenschaft ringsum in pyramidaler Symmetrie die horizontal abstehenden Aeste archi¬ tektonisch gegliedert aufstuft, und ein jeder derselben in seiner elastischen Haltung, in der so formschön, leicht nach oben gekrümm¬ ten flachen Bogenlinie wieder ein Muster eleganten Wuchses zu nennen ist, zeigt diese Wettertanne in Aufgipfelung und Aststellung ein völlig fremdes, neues Bild. Das scheint nicht ein Baum, nein! das scheinen sechs bis acht Bäume an einem Mutterstamm, eine ganze Tannenfamilie zu sein. Hier ist der kokett-geradlinige
Die Wettertanne.
unternahmen. Dieſe ſturmgebrochenen ſilbergrauen Denkſäulen ſind ausſchließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige) Cenſurſcheere des Forſtmannes, das Paragraphenthum und die Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die rationelle Waldwirthſchaft dürfte ſolch ehrwürdige Reliquien im wohlgeordneten Forſthaushalte nicht dulden, ſie wären reglements¬ widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren nach Artikel und Vorſchrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menſchen verlangt. Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie Ausſtrom der unerſchöpflichen Schöpfungskraft, und dieſem ver¬ danken auch die Grenzpoſten der Wettertanne ihre Exiſtenz.
Eine Wettertanne (im Romaniſchen „Pin oder Sapins“, im Waatlande „Gogant“ genannt) iſt alſo ein vereinzelt auf der Alpweide ſtehender Baum, der, wie ſchon aus ſeinem Namen her¬ vorgeht, ein ingründlich verwettertes Ausſehen hat. Meiſt iſts eine Tanne, deren ſchwere, weit ausreichende Aſtarme ſchon wenige Fuß über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis zur Krone ſich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach geſtal¬ ten; — oft aber auch iſts eine Baumfigur, die alle Geſetze des Tannenwuchſes zu verſpotten ſcheint. Unſere Abbildung zeigt das gänzlich Abnorme des Aſtbaues einer ſolchen. Während die frei¬ ſtehende Tieflandstanne an ihrem ſchlanken Säulenſchaft ringsum in pyramidaler Symmetrie die horizontal abſtehenden Aeſte archi¬ tektoniſch gegliedert aufſtuft, und ein jeder derſelben in ſeiner elaſtiſchen Haltung, in der ſo formſchön, leicht nach oben gekrümm¬ ten flachen Bogenlinie wieder ein Muſter eleganten Wuchſes zu nennen iſt, zeigt dieſe Wettertanne in Aufgipfelung und Aſtſtellung ein völlig fremdes, neues Bild. Das ſcheint nicht ein Baum, nein! das ſcheinen ſechs bis acht Bäume an einem Mutterſtamm, eine ganze Tannenfamilie zu ſein. Hier iſt der kokett-geradlinige
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Die Wettertanne.
unternahmen. Dieſe ſturmgebrochenen ſilbergrauen Denkſäulen ſind
ausſchließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der
freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige)
Cenſurſcheere des Forſtmannes, das Paragraphenthum und die
Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die
rationelle Waldwirthſchaft dürfte ſolch ehrwürdige Reliquien im
wohlgeordneten Forſthaushalte nicht dulden, ſie wären reglements¬
widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren
nach Artikel und Vorſchrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel
und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menſchen verlangt.
Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie
Ausſtrom der unerſchöpflichen Schöpfungskraft, und dieſem ver¬
danken auch die Grenzpoſten der Wettertanne ihre Exiſtenz.
Eine Wettertanne (im Romaniſchen „Pin oder Sapins“, im
Waatlande „Gogant“ genannt) iſt alſo ein vereinzelt auf der
Alpweide ſtehender Baum, der, wie ſchon aus ſeinem Namen her¬
vorgeht, ein ingründlich verwettertes Ausſehen hat. Meiſt iſts eine
Tanne, deren ſchwere, weit ausreichende Aſtarme ſchon wenige Fuß
über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis
zur Krone ſich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach geſtal¬
ten; — oft aber auch iſts eine Baumfigur, die alle Geſetze des
Tannenwuchſes zu verſpotten ſcheint. Unſere Abbildung zeigt das
gänzlich Abnorme des Aſtbaues einer ſolchen. Während die frei¬
ſtehende Tieflandstanne an ihrem ſchlanken Säulenſchaft ringsum
in pyramidaler Symmetrie die horizontal abſtehenden Aeſte archi¬
tektoniſch gegliedert aufſtuft, und ein jeder derſelben in ſeiner
elaſtiſchen Haltung, in der ſo formſchön, leicht nach oben gekrümm¬
ten flachen Bogenlinie wieder ein Muſter eleganten Wuchſes zu
nennen iſt, zeigt dieſe Wettertanne in Aufgipfelung und Aſtſtellung
ein völlig fremdes, neues Bild. Das ſcheint nicht ein Baum,
nein! das ſcheinen ſechs bis acht Bäume an einem Mutterſtamm,
eine ganze Tannenfamilie zu ſein. Hier iſt der kokett-geradlinige
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/108>, abgerufen am 16.02.2025.
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