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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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XXII. Justiz.
werden, bis beide Parteien kein Geld zur Bestechung mehr haben,
dass schwere zu lebenslänglicher Kerkerhaft und Zwangsarbeit ver-
urtheilte Verbrecher oft nach kurzer Zeit gegen Bezahlung der
Schliesser entlassen werden, während minder gravirte endlos
schmachten. Die Kerker sollen furchtbar sein; eng aneinander
geschlossen liegen die Gefangenen dort die Nacht durch in Schmutz
und Unrath; bei Tage arbeiten sie ebenfalls gefesselt, oft fünf an
einer Kette, an öffentlichen Bauten. Schwere Verbrecher tragen
dabei eine furchtbare Kettenlast und das Kango. -- Todesstrafe
scheint jetzt nur auf wenige Verbrechen, vorzüglich auf Majestäts-
beleidigung und Rebellion zu stehen; die dazu Verurtheilten werden
enthauptet oder gespiesst, ausser den Sprossen des Königshauses,
die in Säcke genäht und zu Tode geprügelt werden, da das könig-
liche Blut nicht vergossen werden darf. -- Man erzählt von einer
Art heimlichem Gericht, das zweimal wöchentlich in des Königs
Gegenwart nächtliche Sitzungen hielte, ohne Verhör und Zeugen
seine Opfer foltern und bei nächtlichem Dunkel ertränken liesse;
doch ist diese Nachricht keineswegs sicher verbürgt.

Schwere Verbrechen sollen in Siam selten sein; man zählte
in Bankok bei 400,000 Einwohnern jährlich drei bis vier meist von
Chinesen verübte Morde. Kleine Diebereien sind häufig; wir hatten
oft darunter zu leiden, konnten aber meist durch Drohungen das
Gestohlene den Dieben wieder abdringen, welche die Sache sehr
leicht nahmen. Der Charakter des Siamesen ist eben leichtfertig,
unbedacht, furchtsam, geduldig, sanft und heiter, träge und ver-
gnügungssüchtig, allen heftigen Leidenschaften fremd. Sie be-
schenken einander gern und geben dem Armen mit vollen Händen.
Sie sollen aufgeweckt und zu kunstreichen Arbeiten geschickt sein;
da aber der König und die Grossen jeden geschickten Mann sofort
in ihre Dienste pressen, so faulenzen diese lieber oder arbeiten nur
heimlich. -- Jeder Siamese hat nur eine rechtmässige Frau; die
Ehe und die Reinheit seiner Töchter ist ihm heilig, strenge Gesetze
ahnden selbst jede unberufene Liebkosung. Die Scheidung von
Ehegatten soll leicht sein: der Mann oder die Frau geht in ein
Kloster. -- Die barmherzige Milde der Siamesen, auch gegen Thiere,
mag in den buddistischen Lehren wurzeln; sie erschlagen kaum die
Mücke, die ihr Blut saugt.72) Ihre Gastfreundschaft, Achtung vor

72) Pallegoix's Gärtner wollte lieber seinen Dienst verlassen, als das Gewürm
tödten, das er aus dem Boden grub.

XXII. Justiz.
werden, bis beide Parteien kein Geld zur Bestechung mehr haben,
dass schwere zu lebenslänglicher Kerkerhaft und Zwangsarbeit ver-
urtheilte Verbrecher oft nach kurzer Zeit gegen Bezahlung der
Schliesser entlassen werden, während minder gravirte endlos
schmachten. Die Kerker sollen furchtbar sein; eng aneinander
geschlossen liegen die Gefangenen dort die Nacht durch in Schmutz
und Unrath; bei Tage arbeiten sie ebenfalls gefesselt, oft fünf an
einer Kette, an öffentlichen Bauten. Schwere Verbrecher tragen
dabei eine furchtbare Kettenlast und das Kaṅgo. — Todesstrafe
scheint jetzt nur auf wenige Verbrechen, vorzüglich auf Majestäts-
beleidigung und Rebellion zu stehen; die dazu Verurtheilten werden
enthauptet oder gespiesst, ausser den Sprossen des Königshauses,
die in Säcke genäht und zu Tode geprügelt werden, da das könig-
liche Blut nicht vergossen werden darf. — Man erzählt von einer
Art heimlichem Gericht, das zweimal wöchentlich in des Königs
Gegenwart nächtliche Sitzungen hielte, ohne Verhör und Zeugen
seine Opfer foltern und bei nächtlichem Dunkel ertränken liesse;
doch ist diese Nachricht keineswegs sicher verbürgt.

Schwere Verbrechen sollen in Siam selten sein; man zählte
in Baṅkok bei 400,000 Einwohnern jährlich drei bis vier meist von
Chinesen verübte Morde. Kleine Diebereien sind häufig; wir hatten
oft darunter zu leiden, konnten aber meist durch Drohungen das
Gestohlene den Dieben wieder abdringen, welche die Sache sehr
leicht nahmen. Der Charakter des Siamesen ist eben leichtfertig,
unbedacht, furchtsam, geduldig, sanft und heiter, träge und ver-
gnügungssüchtig, allen heftigen Leidenschaften fremd. Sie be-
schenken einander gern und geben dem Armen mit vollen Händen.
Sie sollen aufgeweckt und zu kunstreichen Arbeiten geschickt sein;
da aber der König und die Grossen jeden geschickten Mann sofort
in ihre Dienste pressen, so faulenzen diese lieber oder arbeiten nur
heimlich. — Jeder Siamese hat nur eine rechtmässige Frau; die
Ehe und die Reinheit seiner Töchter ist ihm heilig, strenge Gesetze
ahnden selbst jede unberufene Liebkosung. Die Scheidung von
Ehegatten soll leicht sein: der Mann oder die Frau geht in ein
Kloster. — Die barmherzige Milde der Siamesen, auch gegen Thiere,
mag in den buddistischen Lehren wurzeln; sie erschlagen kaum die
Mücke, die ihr Blut saugt.72) Ihre Gastfreundschaft, Achtung vor

72) Pallégoix’s Gärtner wollte lieber seinen Dienst verlassen, als das Gewürm
tödten, das er aus dem Boden grub.
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[327/0341] XXII. Justiz. werden, bis beide Parteien kein Geld zur Bestechung mehr haben, dass schwere zu lebenslänglicher Kerkerhaft und Zwangsarbeit ver- urtheilte Verbrecher oft nach kurzer Zeit gegen Bezahlung der Schliesser entlassen werden, während minder gravirte endlos schmachten. Die Kerker sollen furchtbar sein; eng aneinander geschlossen liegen die Gefangenen dort die Nacht durch in Schmutz und Unrath; bei Tage arbeiten sie ebenfalls gefesselt, oft fünf an einer Kette, an öffentlichen Bauten. Schwere Verbrecher tragen dabei eine furchtbare Kettenlast und das Kaṅgo. — Todesstrafe scheint jetzt nur auf wenige Verbrechen, vorzüglich auf Majestäts- beleidigung und Rebellion zu stehen; die dazu Verurtheilten werden enthauptet oder gespiesst, ausser den Sprossen des Königshauses, die in Säcke genäht und zu Tode geprügelt werden, da das könig- liche Blut nicht vergossen werden darf. — Man erzählt von einer Art heimlichem Gericht, das zweimal wöchentlich in des Königs Gegenwart nächtliche Sitzungen hielte, ohne Verhör und Zeugen seine Opfer foltern und bei nächtlichem Dunkel ertränken liesse; doch ist diese Nachricht keineswegs sicher verbürgt. Schwere Verbrechen sollen in Siam selten sein; man zählte in Baṅkok bei 400,000 Einwohnern jährlich drei bis vier meist von Chinesen verübte Morde. Kleine Diebereien sind häufig; wir hatten oft darunter zu leiden, konnten aber meist durch Drohungen das Gestohlene den Dieben wieder abdringen, welche die Sache sehr leicht nahmen. Der Charakter des Siamesen ist eben leichtfertig, unbedacht, furchtsam, geduldig, sanft und heiter, träge und ver- gnügungssüchtig, allen heftigen Leidenschaften fremd. Sie be- schenken einander gern und geben dem Armen mit vollen Händen. Sie sollen aufgeweckt und zu kunstreichen Arbeiten geschickt sein; da aber der König und die Grossen jeden geschickten Mann sofort in ihre Dienste pressen, so faulenzen diese lieber oder arbeiten nur heimlich. — Jeder Siamese hat nur eine rechtmässige Frau; die Ehe und die Reinheit seiner Töchter ist ihm heilig, strenge Gesetze ahnden selbst jede unberufene Liebkosung. Die Scheidung von Ehegatten soll leicht sein: der Mann oder die Frau geht in ein Kloster. — Die barmherzige Milde der Siamesen, auch gegen Thiere, mag in den buddistischen Lehren wurzeln; sie erschlagen kaum die Mücke, die ihr Blut saugt. 72) Ihre Gastfreundschaft, Achtung vor 72) Pallégoix’s Gärtner wollte lieber seinen Dienst verlassen, als das Gewürm tödten, das er aus dem Boden grub.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/341>, abgerufen am 26.11.2024.