Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.Die Stadt Tien-tsin. XV. wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann-kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver- stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Yeddo gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen Ersatz; Tien-tsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabseh- baren Ebene gelegen hat es den Winter von Upsala und den Som- mer von Kairo. Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho, als durch den hier mündenden Kaisercanal, der, von Han-tsau aus- gehend, den Yan-tse und den Hoan-ho schneidend, durch acht Breitengrade und vier grosse Provinzen fliesst; es versieht ferner den grössten Theil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen Meeresküste gewonnen, in Tien-tsin aufgestapelt und verschifft wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichthum und Lebens- verfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden giebt es nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen des chinesischen Gewerbfleisses. Einzelne Trödelbuden, welche allerlei Luxusartikel und Curiositäten, grossentheils aus der Beute des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen Garnison ihr Dasein. In der That ist Tien-tsin, auf salpeter- haltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von 300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaassen beschimpft, dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende Gründe da wohnte. Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt Die Stadt Tien-tsin. XV. wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann-kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver- stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Yeddo gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen Ersatz; Tien-tsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabseh- baren Ebene gelegen hat es den Winter von Upsala und den Som- mer von Kairo. Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho, als durch den hier mündenden Kaisercanal, der, von Haṅ-tšau aus- gehend, den Yaṅ-tse und den Hoaṅ-ho schneidend, durch acht Breitengrade und vier grosse Provinzen fliesst; es versieht ferner den grössten Theil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen Meeresküste gewonnen, in Tien-tsin aufgestapelt und verschifft wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichthum und Lebens- verfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden giebt es nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen des chinesischen Gewerbfleisses. Einzelne Trödelbuden, welche allerlei Luxusartikel und Curiositäten, grossentheils aus der Beute des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen Garnison ihr Dasein. In der That ist Tien-tsin, auf salpeter- haltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von 300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaassen beschimpft, dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende Gründe da wohnte. Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0026" n="12"/><fw place="top" type="header">Die Stadt <hi rendition="#k"><placeName>Tien-tsin</placeName></hi>. XV.</fw><lb/> wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann-<lb/> kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver-<lb/> stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. 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Die Stadt Tien-tsin. XV.
wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann-
kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver-
stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Yeddo
gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und
die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen
Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen
Ersatz; Tien-tsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich
die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabseh-
baren Ebene gelegen hat es den Winter von Upsala und den Som-
mer von Kairo. Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle
Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho, als
durch den hier mündenden Kaisercanal, der, von Haṅ-tšau aus-
gehend, den Yaṅ-tse und den Hoaṅ-ho schneidend, durch acht
Breitengrade und vier grosse Provinzen fliesst; es versieht ferner
den grössten Theil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen
Meeresküste gewonnen, in Tien-tsin aufgestapelt und verschifft
wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl
der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche
die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichthum und Lebens-
verfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden giebt es
nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen
des chinesischen Gewerbfleisses. Einzelne Trödelbuden, welche
allerlei Luxusartikel und Curiositäten, grossentheils aus der Beute
des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen
Garnison ihr Dasein. In der That ist Tien-tsin, auf salpeter-
haltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von
300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaassen beschimpft,
dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende
Gründe da wohnte.
Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt
genau nach den vier Himmelsgegenden und misst in der Richtung
von Norden nach Süden eine englische Meile, von Osten nach
Westen etwa drei Achtel mehr. Die zinnenbekränzte Mauer ist fast
dreissig Fuss hoch und funfzehn Fuss dick, aussen und innen von
graugelben Luftsteinen gebaut, zwischen diesen Wänden mit Lehm
und Schutt ausgefüllt. In der Mitte jeder Mauerseite liegt ein ge-
wölbtes Thor, über welchem ein breiter Festungsthurm von mehreren
Stockwerken steht. Aehnliche Thürme von quadratischem Grund-
riss erheben sich auf den vier Ecken der Ringmauer. Eine Haupt-
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