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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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XVII. Die Grosse Mauer.
Einsiedler soll dort gehaust haben. -- Von diesem Punct erblickte
man zuerst auf den Bergrücken die mächtigen Windungen der
Grossen Mauer, welche gelb in der Sonne glänzte. Mühsam klim-
men die Thiere den steilen Pfad hinan bis zur Passhöhe.

Die gut erhaltene Mauer ist hier etwa 30 Fuss hoch, aus
Quadern aufgebaut, mit Brustwehren aus grossen Ziegeln nach
beiden Seiten. In Zwischenräumen von 300 bis 400 Schritt stehen
viereckige Thürme in der Mauer, mit drei Geschützpforten über
der Mauerhöhe in jeder der vier Seiten. Grosse Haufen alter
eiserner Geschützrohre lagen bei dem Doppelthor des Passes und
in den nächsten Thürmen, zu denen bequeme Treppen hinanführen.
Verschlüsse fanden sich nirgends; Thore und Thüren standen offen.

Bei dem Durchgangsthor stiegen die Reisenden auf die
Mauer, welche hier sieben Schritte breit und mit Steinplatten ge-
deckt ist; wo diese auseinanderwichen, drang der Regen ein und
die Mauer zerfiel; hier gewahrt man, dass nur die äussere Beklei-
dung aus Quadern, der Kern aber aus Schutt und Steingeröll be-
steht. -- Dr. Lucius verfolgte den Mauergang bis zum nächsten
Gipfel, fand aber die Steinplatten vom Regen so glatt gewaschen,
dass bei den starken Steigungen und Senkungen der allen Terrain-
Bewegungen folgenden Mauer stellenweise das Gehen sehr beschwer-
lich war. Auf der letzten Strecke zum Gipfel, wo sie einen Hang
von über 45 Grad Neigung hinanklimmt, geht der Mauerweg in steile
hohe Treppenstufen über.

Oben ist eine weite Aussicht. Nach Südosten senkt sich
das Thal, durch welches die Reisenden kamen; nach Ost und West
überblickt man viele Meilen weit die massigen Werke der Mauer,
welche, hier in ein Thal verschwindend, dort über 3000 Fuss hohe
Felskuppen klimmend, der Bodengestaltung zu spotten scheint.
Oft sind launisch die steilsten Linien, die höchsten Gipfel gewählt,
als ob es kein Hinderniss gäbe. Unwillkürlich gemahnt der Bau
an den trotzigen Willen des Despoten, der keine Grenze seiner
Macht erkennt. So erstreckt sich die Mauer viele hundert Meilen
weit und vielfach in doppelter Linie, mit seitlichen Zweigen. Um
214 soll Kaiser Si-hoan-ti den Bau begonnen haben; spätere Ge-
schlechter setzten ihn fort, und dass noch in neuerer Zeit für die
Erhaltung gesorgt wurde, beweist der Zustand der Mauer an vielen
Stellen. Sie sollte ein Bollwerk der chinesischen Gesittung sein
gegen die Eingriffe nordischer Barbaren, ist aber kaum mehr als

IV. 11

XVII. Die Grosse Mauer.
Einsiedler soll dort gehaust haben. — Von diesem Punct erblickte
man zuerst auf den Bergrücken die mächtigen Windungen der
Grossen Mauer, welche gelb in der Sonne glänzte. Mühsam klim-
men die Thiere den steilen Pfad hinan bis zur Passhöhe.

Die gut erhaltene Mauer ist hier etwa 30 Fuss hoch, aus
Quadern aufgebaut, mit Brustwehren aus grossen Ziegeln nach
beiden Seiten. In Zwischenräumen von 300 bis 400 Schritt stehen
viereckige Thürme in der Mauer, mit drei Geschützpforten über
der Mauerhöhe in jeder der vier Seiten. Grosse Haufen alter
eiserner Geschützrohre lagen bei dem Doppelthor des Passes und
in den nächsten Thürmen, zu denen bequeme Treppen hinanführen.
Verschlüsse fanden sich nirgends; Thore und Thüren standen offen.

Bei dem Durchgangsthor stiegen die Reisenden auf die
Mauer, welche hier sieben Schritte breit und mit Steinplatten ge-
deckt ist; wo diese auseinanderwichen, drang der Regen ein und
die Mauer zerfiel; hier gewahrt man, dass nur die äussere Beklei-
dung aus Quadern, der Kern aber aus Schutt und Steingeröll be-
steht. — Dr. Lucius verfolgte den Mauergang bis zum nächsten
Gipfel, fand aber die Steinplatten vom Regen so glatt gewaschen,
dass bei den starken Steigungen und Senkungen der allen Terrain-
Bewegungen folgenden Mauer stellenweise das Gehen sehr beschwer-
lich war. Auf der letzten Strecke zum Gipfel, wo sie einen Hang
von über 45 Grad Neigung hinanklimmt, geht der Mauerweg in steile
hohe Treppenstufen über.

Oben ist eine weite Aussicht. Nach Südosten senkt sich
das Thal, durch welches die Reisenden kamen; nach Ost und West
überblickt man viele Meilen weit die massigen Werke der Mauer,
welche, hier in ein Thal verschwindend, dort über 3000 Fuss hohe
Felskuppen klimmend, der Bodengestaltung zu spotten scheint.
Oft sind launisch die steilsten Linien, die höchsten Gipfel gewählt,
als ob es kein Hinderniss gäbe. Unwillkürlich gemahnt der Bau
an den trotzigen Willen des Despoten, der keine Grenze seiner
Macht erkennt. So erstreckt sich die Mauer viele hundert Meilen
weit und vielfach in doppelter Linie, mit seitlichen Zweigen. Um
214 soll Kaiser Ši-hoaṅ-ti den Bau begonnen haben; spätere Ge-
schlechter setzten ihn fort, und dass noch in neuerer Zeit für die
Erhaltung gesorgt wurde, beweist der Zustand der Mauer an vielen
Stellen. Sie sollte ein Bollwerk der chinesischen Gesittung sein
gegen die Eingriffe nordischer Barbaren, ist aber kaum mehr als

IV. 11
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[161/0175] XVII. Die Grosse Mauer. Einsiedler soll dort gehaust haben. — Von diesem Punct erblickte man zuerst auf den Bergrücken die mächtigen Windungen der Grossen Mauer, welche gelb in der Sonne glänzte. Mühsam klim- men die Thiere den steilen Pfad hinan bis zur Passhöhe. Die gut erhaltene Mauer ist hier etwa 30 Fuss hoch, aus Quadern aufgebaut, mit Brustwehren aus grossen Ziegeln nach beiden Seiten. In Zwischenräumen von 300 bis 400 Schritt stehen viereckige Thürme in der Mauer, mit drei Geschützpforten über der Mauerhöhe in jeder der vier Seiten. Grosse Haufen alter eiserner Geschützrohre lagen bei dem Doppelthor des Passes und in den nächsten Thürmen, zu denen bequeme Treppen hinanführen. Verschlüsse fanden sich nirgends; Thore und Thüren standen offen. Bei dem Durchgangsthor stiegen die Reisenden auf die Mauer, welche hier sieben Schritte breit und mit Steinplatten ge- deckt ist; wo diese auseinanderwichen, drang der Regen ein und die Mauer zerfiel; hier gewahrt man, dass nur die äussere Beklei- dung aus Quadern, der Kern aber aus Schutt und Steingeröll be- steht. — Dr. Lucius verfolgte den Mauergang bis zum nächsten Gipfel, fand aber die Steinplatten vom Regen so glatt gewaschen, dass bei den starken Steigungen und Senkungen der allen Terrain- Bewegungen folgenden Mauer stellenweise das Gehen sehr beschwer- lich war. Auf der letzten Strecke zum Gipfel, wo sie einen Hang von über 45 Grad Neigung hinanklimmt, geht der Mauerweg in steile hohe Treppenstufen über. Oben ist eine weite Aussicht. Nach Südosten senkt sich das Thal, durch welches die Reisenden kamen; nach Ost und West überblickt man viele Meilen weit die massigen Werke der Mauer, welche, hier in ein Thal verschwindend, dort über 3000 Fuss hohe Felskuppen klimmend, der Bodengestaltung zu spotten scheint. Oft sind launisch die steilsten Linien, die höchsten Gipfel gewählt, als ob es kein Hinderniss gäbe. Unwillkürlich gemahnt der Bau an den trotzigen Willen des Despoten, der keine Grenze seiner Macht erkennt. So erstreckt sich die Mauer viele hundert Meilen weit und vielfach in doppelter Linie, mit seitlichen Zweigen. Um 214 soll Kaiser Ši-hoaṅ-ti den Bau begonnen haben; spätere Ge- schlechter setzten ihn fort, und dass noch in neuerer Zeit für die Erhaltung gesorgt wurde, beweist der Zustand der Mauer an vielen Stellen. Sie sollte ein Bollwerk der chinesischen Gesittung sein gegen die Eingriffe nordischer Barbaren, ist aber kaum mehr als IV. 11

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/175>, abgerufen am 25.11.2024.