Auf Befehl des Ministers Wen-sian blieb ein Thor der Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner, die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl.
Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen; Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke -- Pi-yun-se -- ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der West- mauer ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in einer dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmer- liches Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden Dörfern unterrichtet.
Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des Ge- birges, dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch reicher angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher Wildpark reicht von der Sohle bis zum Kamm des Rückens; vom Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben.
Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohn- gebäuden umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine Facade stossende Freitreppe bietet, an jeder Terrasse in reiche Por- tale mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit
XVII. Pi-yun-se.
Auf Befehl des Ministers Wen-siaṅ blieb ein Thor der Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner, die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl.
Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen; Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke — Pi-yun-se — ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der West- mauer ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in einer dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmer- liches Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden Dörfern unterrichtet.
Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des Ge- birges, dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch reicher angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher Wildpark reicht von der Sohle bis zum Kamm des Rückens; vom Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben.
Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohn- gebäuden umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine Façade stossende Freitreppe bietet, an jeder Terrasse in reiche Por- tale mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit
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XVII. Pi-yun-se.
Auf Befehl des Ministers Wen-siaṅ blieb ein Thor der
Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden
sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den
Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner,
die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde
starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen
Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl.
Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen;
Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke — Pi-yun-se
— ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der West-
mauer ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im
Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in einer
dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmer-
liches Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern
stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein
katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden
Dörfern unterrichtet.
Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher
gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe
an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des Ge-
birges, dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch
reicher angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen
und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme
von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen
ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher
Wildpark reicht von der Sohle bis zum Kamm des Rückens; vom
Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das
Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben.
Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem
Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn
gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohn-
gebäuden umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen
und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf
gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren
höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine
Façade stossende Freitreppe bietet, an jeder Terrasse in reiche Por-
tale mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem
Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem
vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit
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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/153>, abgerufen am 22.11.2024.
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