Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.Aussicht. XVII. redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem ge-schmacklosen Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten Fratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuf- lischer Hässlichkeit. -- Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg durch lichten Laubwald, meist Eichen;29) hier und da steht ein Holzportal, ähnlich denen in Pe-kin. Die letzte Strecke bis zur Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht ist herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander ge- schichteten Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von Yuan-min-yuan aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore von Pe-kin, das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabseh- barer Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel; dort geht es nach der Mongolei. Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde 29) Quercus sinensis.
Aussicht. XVII. redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem ge-schmacklosen Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten Fratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuf- lischer Hässlichkeit. — Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg durch lichten Laubwald, meist Eichen;29) hier und da steht ein Holzportal, ähnlich denen in Pe-kiṅ. Die letzte Strecke bis zur Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht ist herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander ge- schichteten Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore von Pe-kiṅ, das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabseh- barer Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel; dort geht es nach der Mongolei. Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde 29) Quercus sinensis.
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Aussicht. XVII.
redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem ge-
schmacklosen Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten
Fratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine
ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines
weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuf-
lischer Hässlichkeit. — Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg
durch lichten Laubwald, meist Eichen; 29) hier und da steht ein
Holzportal, ähnlich denen in Pe-kiṅ. Die letzte Strecke bis zur
Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht
ist herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander ge-
schichteten Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit
seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet
die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von
Yuaṅ-miṅ-yuaṅ aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore
von Pe-kiṅ, das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte
auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabseh-
barer Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle
schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne
jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein
hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel;
dort geht es nach der Mongolei.
Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde
wieder und ritten auf anderem Wege nach Pe-kiṅ zurück. Kameele
und Esel bedeckten, Kalk und Kohlen von den Bergen heran-
schleppend, in langen Zügen die Landstrasse. In einem Dorf lag
mitten auf dem Wege ein Bettler, gänzlich entblösst, an den abge-
magerten Gliedern grässliche Schwären voll nagender Würmer, in
den letzten Qualen des Todes röchelnd. Vergebens bat Herr de
Méritens die Bewohner der nächsten Häuser, ihn aufzunehmen;
Niemand rührte sich; vielleicht hatten sie selbst ihn dort hingelegt.
Das chinesische Gesetz fordert nämlich von Demjenigen, vor dessen
Haus ein Leichnam gefunden wird, Rechenschaft über seine Todes-
art und verpflichtet denselben, für sein Begräbniss zu sorgen, ja
sich der Hinterbliebenen anzunehmen. Der Sinn dieser Vorschrift
mag menschenfreundlich sein, praktisch wirkt sie das Gegentheil;
der Chinese gewöhnt sich von frühester Jugend, seinen Nächsten
auf der Strasse leiden und scheiden zu sehn, ohne ihm beizu-
springen.
29) Quercus sinensis.
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