Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde, zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter- scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme in Pe-kin stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste.
Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen, die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend, milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen, muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken. Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau- senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt, vor dem sie heulend davon rennen. -- Nah dabei hat ein wandern- der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er- barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden- den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt, findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend; da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die- selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. -- Auch
XVII. Strassenleben.
Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde, zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter- scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme in Pe-kiṅ stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste.
Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen, die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend, milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen, muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken. Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau- senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt, vor dem sie heulend davon rennen. — Nah dabei hat ein wandern- der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er- barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden- den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt, findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend; da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die- selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. — Auch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0125"n="111"/><fwplace="top"type="header">XVII. Strassenleben.</fw><lb/>
Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die<lb/>
Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde,<lb/>
zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter-<lb/>
scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme<lb/>
in <hirendition="#k"><placeName>Pe-kiṅ</placeName></hi> stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja<lb/>
der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste.</p><lb/><p>Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die<lb/>
Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen<lb/>
durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit<lb/>
prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und<lb/>
flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen,<lb/>
die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend,<lb/>
milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze<lb/>
Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren<lb/>
eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit<lb/>
aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen,<lb/>
muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken.<lb/>
Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der<lb/>
Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau-<lb/>
senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt,<lb/>
vor dem sie heulend davon rennen. — Nah dabei hat ein wandern-<lb/>
der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den<lb/>
Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier<lb/>
kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die<lb/>
Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und<lb/>
Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen<lb/>
Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die<lb/>
Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem<lb/>
Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er-<lb/>
barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen<lb/>
der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden-<lb/>
den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt,<lb/>
findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit<lb/>
Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend;<lb/>
da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm<lb/>
und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben<lb/>
aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die-<lb/>
selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins<lb/>
leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. — Auch<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[111/0125]
XVII. Strassenleben.
Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die
Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde,
zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter-
scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme
in Pe-kiṅ stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja
der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste.
Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die
Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen
durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit
prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und
flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen,
die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend,
milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze
Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren
eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit
aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen,
muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken.
Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der
Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau-
senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt,
vor dem sie heulend davon rennen. — Nah dabei hat ein wandern-
der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den
Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier
kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die
Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und
Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen
Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die
Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem
Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er-
barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen
der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden-
den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt,
findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit
Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend;
da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm
und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben
aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die-
selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins
leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. — Auch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/125>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.