In der ersten Zeit nach der Einnahme von Nan-kin scheint der Tien-wan noch für Ausbreitung seiner Lehre gewirkt zu haben; 1853 wurde dort an der Bibelübersetzung gedruckt, die Gemeingut werden sollte. Bald darauf muss sein Geist sich verwirrt haben; nach den Ausflüssen seiner Thätigkeit zu urtheilen, grübelte er nur noch über die Göttlichkeit seiner Person. Damit entartete die ganze Lehre zu crassem Aberglauben; schon 1854 zeigte sich die Tendenz, Gott Vater nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch mit menschlichem Körper und in Mannskleidern zu denken. Die Jungfrau Maria galt wenigstens dem grossen Haufen als seine Gattin und Mutter mehrerer Söhne; sie wurde in der Vorstellung der Tae-pin mit der "himmlischen Mutter" des chinesischen Pantheon verschmolzen. Selbst Jesus scheint man mit einer Göttin der Tao-Secte vermält und als Vater einer zahlreichen Familie von Söhnen und Töchtern, den Enkeln des himmlischen Vaters, gedacht zu haben. -- Hun- siu-tsuen überliess sich im Wahn seiner Göttlichkeit immer mehr allen Gelüsten und Leidenschaften, lebte fast nur in Gesellschaft von Frauen und strafte mit ruchloser Gewaltsamkeit die geringste Verletzung seiner tyrannischen Laune. Mit den Jahren steigerte sich die despotische Wuth zur wahnwitzigen Blutgier, welche den kleinsten Fehler mit schneller Hinrichtung ahndete. Nichtsdesto- weniger überlebte seine Autorität alle tüchtigen Männer, welche seine Macht begründen halfen. Seine Abschliessung scheint den Nimbus der Göttlichkeit gestärkt zu haben; der Gewalt seiner noch so unsinnigen Befehle fügten sich Alle, und es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass brave verständige Männer, die von seinem Irrsinn überzeugt sein mussten, ihm bis zum letzten Augenblick treu blie- ben und als einem höheren Wesen gehorchten.
Der militärische Lenker und politische Organisator der Tae-pin-Bewegung scheint von Anfang an der Ost-König, Yan-sin- tsin gewesen zu sein. Hun-siu-tsuen selbst hatte ihn als Organ des himmlischen Vaters anerkannt und dadurch zu grossem Ein- fluss erhoben, den er ihm später nicht mehr nehmen konnte; denn die Enthüllungen und Befehle, welche Yan bei jeder wichtigen Be- wegung in seinen Verzückungen empfing, mussten die Massen fanatisiren; auch hätte ihn niemand als Feldherrn und Regenten ersetzen können. Nach der Einnahme von Nan-kin mag der Ost- König die Zurückgezogenheit des Tien-wan begünstigt haben, um freier schalten zu können. 1853 und 1854 fanden die Fremden
Entartung der Lehre.
In der ersten Zeit nach der Einnahme von Nan-kiṅ scheint der Tien-waṅ noch für Ausbreitung seiner Lehre gewirkt zu haben; 1853 wurde dort an der Bibelübersetzung gedruckt, die Gemeingut werden sollte. Bald darauf muss sein Geist sich verwirrt haben; nach den Ausflüssen seiner Thätigkeit zu urtheilen, grübelte er nur noch über die Göttlichkeit seiner Person. Damit entartete die ganze Lehre zu crassem Aberglauben; schon 1854 zeigte sich die Tendenz, Gott Vater nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch mit menschlichem Körper und in Mannskleidern zu denken. Die Jungfrau Maria galt wenigstens dem grossen Haufen als seine Gattin und Mutter mehrerer Söhne; sie wurde in der Vorstellung der Tae-piṅ mit der »himmlischen Mutter« des chinesischen Pantheon verschmolzen. Selbst Jesus scheint man mit einer Göttin der Tao-Secte vermält und als Vater einer zahlreichen Familie von Söhnen und Töchtern, den Enkeln des himmlischen Vaters, gedacht zu haben. — Huṅ- siu-tsuen überliess sich im Wahn seiner Göttlichkeit immer mehr allen Gelüsten und Leidenschaften, lebte fast nur in Gesellschaft von Frauen und strafte mit ruchloser Gewaltsamkeit die geringste Verletzung seiner tyrannischen Laune. Mit den Jahren steigerte sich die despotische Wuth zur wahnwitzigen Blutgier, welche den kleinsten Fehler mit schneller Hinrichtung ahndete. Nichtsdesto- weniger überlebte seine Autorität alle tüchtigen Männer, welche seine Macht begründen halfen. Seine Abschliessung scheint den Nimbus der Göttlichkeit gestärkt zu haben; der Gewalt seiner noch so unsinnigen Befehle fügten sich Alle, und es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass brave verständige Männer, die von seinem Irrsinn überzeugt sein mussten, ihm bis zum letzten Augenblick treu blie- ben und als einem höheren Wesen gehorchten.
Der militärische Lenker und politische Organisator der Tae-piṅ-Bewegung scheint von Anfang an der Ost-König, Yaṅ-sin- tsiṅ gewesen zu sein. Huṅ-siu-tsuen selbst hatte ihn als Organ des himmlischen Vaters anerkannt und dadurch zu grossem Ein- fluss erhoben, den er ihm später nicht mehr nehmen konnte; denn die Enthüllungen und Befehle, welche Yaṅ bei jeder wichtigen Be- wegung in seinen Verzückungen empfing, mussten die Massen fanatisiren; auch hätte ihn niemand als Feldherrn und Regenten ersetzen können. Nach der Einnahme von Nan-kiṅ mag der Ost- König die Zurückgezogenheit des Tien-waṅ begünstigt haben, um freier schalten zu können. 1853 und 1854 fanden die Fremden
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Entartung der Lehre.
In der ersten Zeit nach der Einnahme von Nan-kiṅ scheint
der Tien-waṅ noch für Ausbreitung seiner Lehre gewirkt zu haben;
1853 wurde dort an der Bibelübersetzung gedruckt, die Gemeingut
werden sollte. Bald darauf muss sein Geist sich verwirrt haben;
nach den Ausflüssen seiner Thätigkeit zu urtheilen, grübelte er nur
noch über die Göttlichkeit seiner Person. Damit entartete die ganze
Lehre zu crassem Aberglauben; schon 1854 zeigte sich die Tendenz,
Gott Vater nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch mit
menschlichem Körper und in Mannskleidern zu denken. Die Jungfrau
Maria galt wenigstens dem grossen Haufen als seine Gattin und Mutter
mehrerer Söhne; sie wurde in der Vorstellung der Tae-piṅ mit der
»himmlischen Mutter« des chinesischen Pantheon verschmolzen.
Selbst Jesus scheint man mit einer Göttin der Tao-Secte vermält
und als Vater einer zahlreichen Familie von Söhnen und Töchtern,
den Enkeln des himmlischen Vaters, gedacht zu haben. — Huṅ-
siu-tsuen überliess sich im Wahn seiner Göttlichkeit immer mehr
allen Gelüsten und Leidenschaften, lebte fast nur in Gesellschaft
von Frauen und strafte mit ruchloser Gewaltsamkeit die geringste
Verletzung seiner tyrannischen Laune. Mit den Jahren steigerte
sich die despotische Wuth zur wahnwitzigen Blutgier, welche den
kleinsten Fehler mit schneller Hinrichtung ahndete. Nichtsdesto-
weniger überlebte seine Autorität alle tüchtigen Männer, welche
seine Macht begründen halfen. Seine Abschliessung scheint den
Nimbus der Göttlichkeit gestärkt zu haben; der Gewalt seiner noch
so unsinnigen Befehle fügten sich Alle, und es ist ein merkwürdiges
Phänomen, dass brave verständige Männer, die von seinem Irrsinn
überzeugt sein mussten, ihm bis zum letzten Augenblick treu blie-
ben und als einem höheren Wesen gehorchten.
Der militärische Lenker und politische Organisator der
Tae-piṅ-Bewegung scheint von Anfang an der Ost-König, Yaṅ-sin-
tsiṅ gewesen zu sein. Huṅ-siu-tsuen selbst hatte ihn als Organ
des himmlischen Vaters anerkannt und dadurch zu grossem Ein-
fluss erhoben, den er ihm später nicht mehr nehmen konnte; denn
die Enthüllungen und Befehle, welche Yaṅ bei jeder wichtigen Be-
wegung in seinen Verzückungen empfing, mussten die Massen
fanatisiren; auch hätte ihn niemand als Feldherrn und Regenten
ersetzen können. Nach der Einnahme von Nan-kiṅ mag der Ost-
König die Zurückgezogenheit des Tien-waṅ begünstigt haben, um
freier schalten zu können. 1853 und 1854 fanden die Fremden
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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/226>, abgerufen am 25.11.2024.
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