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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Lin's Schicksale und Arbeiten.

Lin musste nach der Convention von Kan-ton zur Verant-
wortung in Pe-kin erscheinen; "nicht", wie der Kaiser ausdrücklich
sagt, "auf die Vorstellungen der Barbaren, sondern weil der wirk-
liche Sachverhalt jetzt vollständig bekannt geworden sei. Der durch
seine fehlerhafte Amtsführung verursachte Schaden habe diese
Maassregel veranlasst, keineswegs irgend eine Rücksicht auf die
englischen Vorstellungen." -- Lin wurde um vier Rangstufen degra-
dirt und nach Ili verbannt, richtete aber an den Kaiser eine frei-
müthige Rechtfertigung seiner Politik, und bat sich der Armee
anschliessen zu dürfen, welche damals in Tse-kian operirte. Das
wurde ihm gewährt. Seine Rathschläge bewirkten nachher die Auf-
stellung bei Tse-ki, welche zur Niederlage führte. -- Darauf
scheint Lin sich in das Privatleben zurückgezogen und mit littera-
rischen Arbeiten beschäftigt zu haben, bis er 1851 hochbejahrt vom
Kaiser Hien-fun zu Unterdrückung der Tae-pin-Rebellion nach
Kuan-si geschickt wurde. Er starb auf der Reise. Die Wichtig-
keit des schwierigen Auftrages aber beweist, wie hoch man damals
seine Begabung und Thatkraft schätzte.

Schon in Kan-ton hatte Lin eifrig gestrebt, sich Kenntnisse
über die Länder des Westens zu erwerben. Alle möglichen frem-
den Bücher und Zeitungen liess er übersetzen und verarbeitete die
gesammelten Auszüge zu einem Werke in funfzig Büchern und
zwölf Bänden: "Statistische Notizen über die Königreiche des
Westens." Ein Ministerial-Beamter in Pe-kin, welchem das Manu-
script übergeben wurde, ergänzte und erläuterte dasselbe durch Zu-
sätze aus den kaiserlichen Archiven. So wurde es 1844 gedruckt
und unter die höheren Staatsbeamten vertheilt 37). Das Werk ist
ein Gemisch von Scharfsinn und Unverstand, von Richtigem und
Falschem, wie es bei den unzuverlässigen Uebersetzungen und des
Verfassers Unfähigkeit zu jeder Kritik europäischer Verhältnisse
nicht anders sein konnte; die meisten Vorschläge zur Vertheidigung
China's sind chimärisch und abgeschmackt, wenn auch einzelne kluge
Einfälle mit unterlaufen; es ist aber merkwürdig als Aeusserung
eines begabten und ehrlichen Chinesen, und weil es, das einzige
Werk dieser Art, damals grossen Einfluss auf die Ansichten der
leitenden Politiker geübt haben muss.

Lin's auswärtige Politik geht von dem Grundsatz aus, dass

37) Ein Exemplar, das Gützlaff sich in Shang-hae verschaffte, ging nach Paris.
Lin’s Schicksale und Arbeiten.

Lin musste nach der Convention von Kan-ton zur Verant-
wortung in Pe-kiṅ erscheinen; »nicht«, wie der Kaiser ausdrücklich
sagt, »auf die Vorstellungen der Barbaren, sondern weil der wirk-
liche Sachverhalt jetzt vollständig bekannt geworden sei. Der durch
seine fehlerhafte Amtsführung verursachte Schaden habe diese
Maassregel veranlasst, keineswegs irgend eine Rücksicht auf die
englischen Vorstellungen.« — Lin wurde um vier Rangstufen degra-
dirt und nach Ili verbannt, richtete aber an den Kaiser eine frei-
müthige Rechtfertigung seiner Politik, und bat sich der Armee
anschliessen zu dürfen, welche damals in Tše-kiaṅ operirte. Das
wurde ihm gewährt. Seine Rathschläge bewirkten nachher die Auf-
stellung bei Tse-ki, welche zur Niederlage führte. — Darauf
scheint Lin sich in das Privatleben zurückgezogen und mit littera-
rischen Arbeiten beschäftigt zu haben, bis er 1851 hochbejahrt vom
Kaiser Hien-fuṅ zu Unterdrückung der Tae-piṅ-Rebellion nach
Kuaṅ-si geschickt wurde. Er starb auf der Reise. Die Wichtig-
keit des schwierigen Auftrages aber beweist, wie hoch man damals
seine Begabung und Thatkraft schätzte.

Schon in Kan-ton hatte Lin eifrig gestrebt, sich Kenntnisse
über die Länder des Westens zu erwerben. Alle möglichen frem-
den Bücher und Zeitungen liess er übersetzen und verarbeitete die
gesammelten Auszüge zu einem Werke in funfzig Büchern und
zwölf Bänden: »Statistische Notizen über die Königreiche des
Westens.« Ein Ministerial-Beamter in Pe-kiṅ, welchem das Manu-
script übergeben wurde, ergänzte und erläuterte dasselbe durch Zu-
sätze aus den kaiserlichen Archiven. So wurde es 1844 gedruckt
und unter die höheren Staatsbeamten vertheilt 37). Das Werk ist
ein Gemisch von Scharfsinn und Unverstand, von Richtigem und
Falschem, wie es bei den unzuverlässigen Uebersetzungen und des
Verfassers Unfähigkeit zu jeder Kritik europäischer Verhältnisse
nicht anders sein konnte; die meisten Vorschläge zur Vertheidigung
China’s sind chimärisch und abgeschmackt, wenn auch einzelne kluge
Einfälle mit unterlaufen; es ist aber merkwürdig als Aeusserung
eines begabten und ehrlichen Chinesen, und weil es, das einzige
Werk dieser Art, damals grossen Einfluss auf die Ansichten der
leitenden Politiker geübt haben muss.

Lin’s auswärtige Politik geht von dem Grundsatz aus, dass

37) Ein Exemplar, das Gützlaff sich in Shang-hae verschaffte, ging nach Paris.
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[94/0116] Lin’s Schicksale und Arbeiten. Lin musste nach der Convention von Kan-ton zur Verant- wortung in Pe-kiṅ erscheinen; »nicht«, wie der Kaiser ausdrücklich sagt, »auf die Vorstellungen der Barbaren, sondern weil der wirk- liche Sachverhalt jetzt vollständig bekannt geworden sei. Der durch seine fehlerhafte Amtsführung verursachte Schaden habe diese Maassregel veranlasst, keineswegs irgend eine Rücksicht auf die englischen Vorstellungen.« — Lin wurde um vier Rangstufen degra- dirt und nach Ili verbannt, richtete aber an den Kaiser eine frei- müthige Rechtfertigung seiner Politik, und bat sich der Armee anschliessen zu dürfen, welche damals in Tše-kiaṅ operirte. Das wurde ihm gewährt. Seine Rathschläge bewirkten nachher die Auf- stellung bei Tse-ki, welche zur Niederlage führte. — Darauf scheint Lin sich in das Privatleben zurückgezogen und mit littera- rischen Arbeiten beschäftigt zu haben, bis er 1851 hochbejahrt vom Kaiser Hien-fuṅ zu Unterdrückung der Tae-piṅ-Rebellion nach Kuaṅ-si geschickt wurde. Er starb auf der Reise. Die Wichtig- keit des schwierigen Auftrages aber beweist, wie hoch man damals seine Begabung und Thatkraft schätzte. Schon in Kan-ton hatte Lin eifrig gestrebt, sich Kenntnisse über die Länder des Westens zu erwerben. Alle möglichen frem- den Bücher und Zeitungen liess er übersetzen und verarbeitete die gesammelten Auszüge zu einem Werke in funfzig Büchern und zwölf Bänden: »Statistische Notizen über die Königreiche des Westens.« Ein Ministerial-Beamter in Pe-kiṅ, welchem das Manu- script übergeben wurde, ergänzte und erläuterte dasselbe durch Zu- sätze aus den kaiserlichen Archiven. So wurde es 1844 gedruckt und unter die höheren Staatsbeamten vertheilt 37). Das Werk ist ein Gemisch von Scharfsinn und Unverstand, von Richtigem und Falschem, wie es bei den unzuverlässigen Uebersetzungen und des Verfassers Unfähigkeit zu jeder Kritik europäischer Verhältnisse nicht anders sein konnte; die meisten Vorschläge zur Vertheidigung China’s sind chimärisch und abgeschmackt, wenn auch einzelne kluge Einfälle mit unterlaufen; es ist aber merkwürdig als Aeusserung eines begabten und ehrlichen Chinesen, und weil es, das einzige Werk dieser Art, damals grossen Einfluss auf die Ansichten der leitenden Politiker geübt haben muss. Lin’s auswärtige Politik geht von dem Grundsatz aus, dass 37) Ein Exemplar, das Gützlaff sich in Shang-hae verschaffte, ging nach Paris.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/116>, abgerufen am 29.11.2024.