Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Bildungsstufe. Stellung der Frauen.
Absperrung mehr europäische Wissenschaft angeeignet, als irgend
ein asiatisches Volk im freien Verkehr mit dem Westen. Die
Factorei-Beamten von Desima fanden auf ihren Hofreisen immer
Gelehrte, die das Holländische verstanden und als Mittel zum Studium
wissenschaftlicher Bücher benutzten; die Fragen, die sie zu stellen
pflegten, zeugten von eingehendem Verständniss der verschiedensten
Zweige der Naturwissenschaft und Technik. Illustrirte Uebersetzungen
holländischer Werke dieser Richtung sind in allen Buchhandlungen 16)
zu finden. Die geistige Thätigkeit der Japaner ist hinreichend ge-
weckt und vorbereitet um einen raschen Aufschwung der Bildung
-- freilich wohl auf Kosten des politischen Systems und der natio-
nalen Eigenthümlichkeit -- erwarten zu lassen, sobald es möglich
sein wird, dort auch Werke religiösen, philosophischen und ge-
schichtlichen Inhalts, und die Blüthen westländischer Litteratur
zu verbreiten; sie besitzen zudem grosse Leichtigkeit in Erlernung
fremder Sprachen. Dem Verfasser scheint Japan in der That be-
rufen zu einer Pflanzstätte der Cultur, von wo sich die civilisatorische
Thätigkeit nach Westen über Korea und China, dem einstigen Aus-
gangspuncte seiner Bildung, zurückverbreiten könnte.

Einer der schlimmsten Auswüchse der japanischen Gesittung
und schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Bildungsstufe, ist die
berechtigte Licenz des unehelichen Umganges, auf welche hier nicht
näher eingegangen werden kann. Die Verbreitung des Lasters ist
vielleicht nicht grösser als in civilisirten Ländern des Westens, aber
der geringe Grad der damit verbundenen Schande, der japanische
Maassstab von Tugend und Laster in dieser Richtung ist ein offen-
barer Flecken an ihrer Gesittung. Betrachtet man daneben das
schöne Familienleben, die ehrenvolle Stellung der Hausfrau und
ihrer Töchter in allen Ständen, so steigt der Gedanke auf, dass
jener arge Schaden wie ein äusserer Auswuchs ist, der ohne in das
Mark zu dringen nur die schlechten Säfte aufsaugt, ohne den sonst
gesunden Organismus tiefer zu stören. Das beste Zeichen für die
ehrenvolle Stellung der japanischen Frauen ist die unbefangene
Freiheit mit der sie sich bewegen und an den Beschäftigungen des
Mannes theilnehmen. Die Frauen und Mädchen des Mittelstandes
gehen unverschleiert, ohne männliche Begleitung auf den Strassen,
und sitzen vielfach als Verkäuferinnen in den Läden, was in anderen
Ländern des Orients nicht üblich ist. Ihr Benehmen ist sittsam

16) S. Bd. I., S. 131, 312.

VI. Bildungsstufe. Stellung der Frauen.
Absperrung mehr europäische Wissenschaft angeeignet, als irgend
ein asiatisches Volk im freien Verkehr mit dem Westen. Die
Factorei-Beamten von Desima fanden auf ihren Hofreisen immer
Gelehrte, die das Holländische verstanden und als Mittel zum Studium
wissenschaftlicher Bücher benutzten; die Fragen, die sie zu stellen
pflegten, zeugten von eingehendem Verständniss der verschiedensten
Zweige der Naturwissenschaft und Technik. Illustrirte Uebersetzungen
holländischer Werke dieser Richtung sind in allen Buchhandlungen 16)
zu finden. Die geistige Thätigkeit der Japaner ist hinreichend ge-
weckt und vorbereitet um einen raschen Aufschwung der Bildung
— freilich wohl auf Kosten des politischen Systems und der natio-
nalen Eigenthümlichkeit — erwarten zu lassen, sobald es möglich
sein wird, dort auch Werke religiösen, philosophischen und ge-
schichtlichen Inhalts, und die Blüthen westländischer Litteratur
zu verbreiten; sie besitzen zudem grosse Leichtigkeit in Erlernung
fremder Sprachen. Dem Verfasser scheint Japan in der That be-
rufen zu einer Pflanzstätte der Cultur, von wo sich die civilisatorische
Thätigkeit nach Westen über Korea und China, dem einstigen Aus-
gangspuncte seiner Bildung, zurückverbreiten könnte.

Einer der schlimmsten Auswüchse der japanischen Gesittung
und schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Bildungsstufe, ist die
berechtigte Licenz des unehelichen Umganges, auf welche hier nicht
näher eingegangen werden kann. Die Verbreitung des Lasters ist
vielleicht nicht grösser als in civilisirten Ländern des Westens, aber
der geringe Grad der damit verbundenen Schande, der japanische
Maassstab von Tugend und Laster in dieser Richtung ist ein offen-
barer Flecken an ihrer Gesittung. Betrachtet man daneben das
schöne Familienleben, die ehrenvolle Stellung der Hausfrau und
ihrer Töchter in allen Ständen, so steigt der Gedanke auf, dass
jener arge Schaden wie ein äusserer Auswuchs ist, der ohne in das
Mark zu dringen nur die schlechten Säfte aufsaugt, ohne den sonst
gesunden Organismus tiefer zu stören. Das beste Zeichen für die
ehrenvolle Stellung der japanischen Frauen ist die unbefangene
Freiheit mit der sie sich bewegen und an den Beschäftigungen des
Mannes theilnehmen. Die Frauen und Mädchen des Mittelstandes
gehen unverschleiert, ohne männliche Begleitung auf den Strassen,
und sitzen vielfach als Verkäuferinnen in den Läden, was in anderen
Ländern des Orients nicht üblich ist. Ihr Benehmen ist sittsam

16) S. Bd. I., S. 131, 312.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="37"/><fw place="top" type="header">VI. Bildungsstufe. Stellung der Frauen.</fw><lb/>
Absperrung mehr europäische Wissenschaft angeeignet, als irgend<lb/>
ein asiatisches Volk im freien Verkehr mit dem Westen. Die<lb/>
Factorei-Beamten von <hi rendition="#k"><placeName>Desima</placeName></hi> fanden auf ihren Hofreisen immer<lb/>
Gelehrte, die das Holländische verstanden und als Mittel zum Studium<lb/>
wissenschaftlicher Bücher benutzten; die Fragen, die sie zu stellen<lb/>
pflegten, zeugten von eingehendem Verständniss der verschiedensten<lb/>
Zweige der Naturwissenschaft und Technik. Illustrirte Uebersetzungen<lb/>
holländischer Werke dieser Richtung sind in allen Buchhandlungen <note place="foot" n="16)">S. Bd. I., S. 131, 312.</note><lb/>
zu finden. Die geistige Thätigkeit der Japaner ist hinreichend ge-<lb/>
weckt und vorbereitet um einen raschen Aufschwung der Bildung<lb/>
&#x2014; freilich wohl auf Kosten des politischen Systems und der natio-<lb/>
nalen Eigenthümlichkeit &#x2014; erwarten zu lassen, sobald es möglich<lb/>
sein wird, dort auch Werke religiösen, philosophischen und ge-<lb/>
schichtlichen Inhalts, und die Blüthen westländischer Litteratur<lb/>
zu verbreiten; sie besitzen zudem grosse Leichtigkeit in Erlernung<lb/>
fremder Sprachen. Dem Verfasser scheint <placeName>Japan</placeName> in der That be-<lb/>
rufen zu einer Pflanzstätte der Cultur, von wo sich die civilisatorische<lb/>
Thätigkeit nach Westen über <placeName>Korea</placeName> und <placeName>China</placeName>, dem einstigen Aus-<lb/>
gangspuncte seiner Bildung, zurückverbreiten könnte.</p><lb/>
          <p>Einer der schlimmsten Auswüchse der japanischen Gesittung<lb/>
und schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Bildungsstufe, ist die<lb/>
berechtigte Licenz des unehelichen Umganges, auf welche hier nicht<lb/>
näher eingegangen werden kann. Die Verbreitung des Lasters ist<lb/>
vielleicht nicht grösser als in civilisirten Ländern des Westens, aber<lb/>
der geringe Grad der damit verbundenen Schande, der japanische<lb/>
Maassstab von Tugend und Laster in dieser Richtung ist ein offen-<lb/>
barer Flecken an ihrer Gesittung. Betrachtet man daneben das<lb/>
schöne Familienleben, die ehrenvolle Stellung der Hausfrau und<lb/>
ihrer Töchter in allen Ständen, so steigt der Gedanke auf, dass<lb/>
jener arge Schaden wie ein äusserer Auswuchs ist, der ohne in das<lb/>
Mark zu dringen nur die schlechten Säfte aufsaugt, ohne den sonst<lb/>
gesunden Organismus tiefer zu stören. Das beste Zeichen für die<lb/>
ehrenvolle Stellung der japanischen Frauen ist die unbefangene<lb/>
Freiheit mit der sie sich bewegen und an den Beschäftigungen des<lb/>
Mannes theilnehmen. Die Frauen und Mädchen des Mittelstandes<lb/>
gehen unverschleiert, ohne männliche Begleitung auf den Strassen,<lb/>
und sitzen vielfach als Verkäuferinnen in den Läden, was in anderen<lb/>
Ländern des Orients nicht üblich ist. Ihr Benehmen ist sittsam<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[37/0057] VI. Bildungsstufe. Stellung der Frauen. Absperrung mehr europäische Wissenschaft angeeignet, als irgend ein asiatisches Volk im freien Verkehr mit dem Westen. Die Factorei-Beamten von Desima fanden auf ihren Hofreisen immer Gelehrte, die das Holländische verstanden und als Mittel zum Studium wissenschaftlicher Bücher benutzten; die Fragen, die sie zu stellen pflegten, zeugten von eingehendem Verständniss der verschiedensten Zweige der Naturwissenschaft und Technik. Illustrirte Uebersetzungen holländischer Werke dieser Richtung sind in allen Buchhandlungen 16) zu finden. Die geistige Thätigkeit der Japaner ist hinreichend ge- weckt und vorbereitet um einen raschen Aufschwung der Bildung — freilich wohl auf Kosten des politischen Systems und der natio- nalen Eigenthümlichkeit — erwarten zu lassen, sobald es möglich sein wird, dort auch Werke religiösen, philosophischen und ge- schichtlichen Inhalts, und die Blüthen westländischer Litteratur zu verbreiten; sie besitzen zudem grosse Leichtigkeit in Erlernung fremder Sprachen. Dem Verfasser scheint Japan in der That be- rufen zu einer Pflanzstätte der Cultur, von wo sich die civilisatorische Thätigkeit nach Westen über Korea und China, dem einstigen Aus- gangspuncte seiner Bildung, zurückverbreiten könnte. Einer der schlimmsten Auswüchse der japanischen Gesittung und schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Bildungsstufe, ist die berechtigte Licenz des unehelichen Umganges, auf welche hier nicht näher eingegangen werden kann. Die Verbreitung des Lasters ist vielleicht nicht grösser als in civilisirten Ländern des Westens, aber der geringe Grad der damit verbundenen Schande, der japanische Maassstab von Tugend und Laster in dieser Richtung ist ein offen- barer Flecken an ihrer Gesittung. Betrachtet man daneben das schöne Familienleben, die ehrenvolle Stellung der Hausfrau und ihrer Töchter in allen Ständen, so steigt der Gedanke auf, dass jener arge Schaden wie ein äusserer Auswuchs ist, der ohne in das Mark zu dringen nur die schlechten Säfte aufsaugt, ohne den sonst gesunden Organismus tiefer zu stören. Das beste Zeichen für die ehrenvolle Stellung der japanischen Frauen ist die unbefangene Freiheit mit der sie sich bewegen und an den Beschäftigungen des Mannes theilnehmen. Die Frauen und Mädchen des Mittelstandes gehen unverschleiert, ohne männliche Begleitung auf den Strassen, und sitzen vielfach als Verkäuferinnen in den Läden, was in anderen Ländern des Orients nicht üblich ist. Ihr Benehmen ist sittsam 16) S. Bd. I., S. 131, 312.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/57
Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/57>, abgerufen am 25.11.2024.