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Bengel, Johann Albrecht: Abriß der so genannten Brüdergemeine. Bd. 1. Stuttgart, 1751.

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Theil I. Cap. III. Satz 33.

" Unser itziger Text zerfällt natürlich in zwey Theile.

Der Erste Theil ist: Um was die Boten des
Lamms sich nicht zu bekümmern haben,
remo-
tive.

Der Andere betrifft ihr eigentliches Ge-
schäffte,
affirmative.

Liebe Geschwister! seit sechzig oder siebenzig Jah-
ren hat sich eine neue Zeit hervor gemacht, eine früh-
zeitige Reformation, daran wir noch immer klauben,
davon unsere eigene Gemeine noch allerhand Schwie-
rigkeiten und Hindernisse, ja ich möchte bald sagen,
Verblendungen, in ihrem eigenen Theil zu erfahren
hat, und davon wir selbst sagen müssen: Wir kön-
nen uns noch nicht recht aus dem Traum finden,
aus den ideen der frühzeitigen Reformation, aus der
unzeitigen Verbesserungs-Lust der Zeiten.

D. Luther hat so treuherzig gesagt, wie lange
man muß bey der öffentlichen Weise in den Kirchen
vor allem Volk bleiben: und wir wollen Lutheraner
seyn, und geben gar nicht acht auf seine Anwei-
sung und Prophezeyung. Er hat in der Vorrede
zu der Teutschen Messe oder Agende* gesagt: Es
sey nicht eher Zeit, was anzufangen, bis sich
Leute fänden, die mit Ernst Christen zu seyn
begehrten: die Ordnung und Weisen wären
darnach bald gemacht.

Das ist das, was ich alleweil auch sage, man
muß nicht eher Evangelium predigen, bis sich Her-
zen finden, dies hören wollen; man muß nicht eher
Gemeinen machen, bis wir Leute haben, die einen
Gemein-Sinn haben.

Was hat man denn also eigentlich für Veran-
lassung zu der frühzeitigen Reformation gehabt? Ich
gläube, wenn mans beym Lichte besieht, so ists ein
gewisser Vorwitz, mit Misvergnügen und Ungeduld
vermischt, gewesen, der aus dem dreyssigjährigen
Kriege entstanden ist.

Es waren vor diesem die Leute überaus sehr
" a leur aise, in gar guten Umständen, sie befunden

sich
* Tom. III. Altenburg. p. 468. seq.
Theil I. Cap. III. Satz 33.

” Unſer itziger Text zerfaͤllt natuͤrlich in zwey Theile.

Der Erſte Theil iſt: Um was die Boten des
Lamms ſich nicht zu bekuͤmmern haben,
remo-
tive.

Der Andere betrifft ihr eigentliches Ge-
ſchaͤffte,
affirmative.

Liebe Geſchwiſter! ſeit ſechzig oder ſiebenzig Jah-
ren hat ſich eine neue Zeit hervor gemacht, eine fruͤh-
zeitige Reformation, daran wir noch immer klauben,
davon unſere eigene Gemeine noch allerhand Schwie-
rigkeiten und Hinderniſſe, ja ich moͤchte bald ſagen,
Verblendungen, in ihrem eigenen Theil zu erfahren
hat, und davon wir ſelbſt ſagen muͤſſen: Wir koͤn-
nen uns noch nicht recht aus dem Traum finden,
aus den idéen der fruͤhzeitigen Reformation, aus der
unzeitigen Verbeſſerungs-Luſt der Zeiten.

D. Luther hat ſo treuherzig geſagt, wie lange
man muß bey der oͤffentlichen Weiſe in den Kirchen
vor allem Volk bleiben: und wir wollen Lutheraner
ſeyn, und geben gar nicht acht auf ſeine Anwei-
ſung und Prophezeyung. Er hat in der Vorrede
zu der Teutſchen Meſſe oder Agende* geſagt: Es
ſey nicht eher Zeit, was anzufangen, bis ſich
Leute faͤnden, die mit Ernſt Chriſten zu ſeyn
begehrten: die Ordnung und Weiſen waͤren
darnach bald gemacht.

Das iſt das, was ich alleweil auch ſage, man
muß nicht eher Evangelium predigen, bis ſich Her-
zen finden, dies hoͤren wollen; man muß nicht eher
Gemeinen machen, bis wir Leute haben, die einen
Gemein-Sinn haben.

Was hat man denn alſo eigentlich fuͤr Veran-
laſſung zu der fruͤhzeitigen Reformation gehabt? Ich
glaͤube, wenn mans beym Lichte beſieht, ſo iſts ein
gewiſſer Vorwitz, mit Miſvergnuͤgen und Ungeduld
vermiſcht, geweſen, der aus dem dreyſſigjaͤhrigen
Kriege entſtanden iſt.

Es waren vor dieſem die Leute uͤberaus ſehr
à leur aiſe, in gar guten Umſtaͤnden, ſie befunden

ſich
* Tom. III. Altenburg. p. 468. ſeq.
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[246/0266] Theil I. Cap. III. Satz 33. ” Unſer itziger Text zerfaͤllt natuͤrlich in zwey Theile. Der Erſte Theil iſt: Um was die Boten des Lamms ſich nicht zu bekuͤmmern haben, remo- tive. Der Andere betrifft ihr eigentliches Ge- ſchaͤffte, affirmative. Liebe Geſchwiſter! ſeit ſechzig oder ſiebenzig Jah- ren hat ſich eine neue Zeit hervor gemacht, eine fruͤh- zeitige Reformation, daran wir noch immer klauben, davon unſere eigene Gemeine noch allerhand Schwie- rigkeiten und Hinderniſſe, ja ich moͤchte bald ſagen, Verblendungen, in ihrem eigenen Theil zu erfahren hat, und davon wir ſelbſt ſagen muͤſſen: Wir koͤn- nen uns noch nicht recht aus dem Traum finden, aus den idéen der fruͤhzeitigen Reformation, aus der unzeitigen Verbeſſerungs-Luſt der Zeiten. D. Luther hat ſo treuherzig geſagt, wie lange man muß bey der oͤffentlichen Weiſe in den Kirchen vor allem Volk bleiben: und wir wollen Lutheraner ſeyn, und geben gar nicht acht auf ſeine Anwei- ſung und Prophezeyung. Er hat in der Vorrede zu der Teutſchen Meſſe oder Agende * geſagt: Es ſey nicht eher Zeit, was anzufangen, bis ſich Leute faͤnden, die mit Ernſt Chriſten zu ſeyn begehrten: die Ordnung und Weiſen waͤren darnach bald gemacht. Das iſt das, was ich alleweil auch ſage, man muß nicht eher Evangelium predigen, bis ſich Her- zen finden, dies hoͤren wollen; man muß nicht eher Gemeinen machen, bis wir Leute haben, die einen Gemein-Sinn haben. Was hat man denn alſo eigentlich fuͤr Veran- laſſung zu der fruͤhzeitigen Reformation gehabt? Ich glaͤube, wenn mans beym Lichte beſieht, ſo iſts ein gewiſſer Vorwitz, mit Miſvergnuͤgen und Ungeduld vermiſcht, geweſen, der aus dem dreyſſigjaͤhrigen Kriege entſtanden iſt. Es waren vor dieſem die Leute uͤberaus ſehr ” à leur aiſe, in gar guten Umſtaͤnden, ſie befunden ſich * Tom. III. Altenburg. p. 468. ſeq.

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Zitationshilfe: Bengel, Johann Albrecht: Abriß der so genannten Brüdergemeine. Bd. 1. Stuttgart, 1751, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bengel_abriss01_1751/266>, abgerufen am 24.11.2024.