Was ist denn daran, daß bey der neumäh- rischen Gemeine die allermeiste Lieder, und alle ihres Stifters Reden, sonderlich über die Wunden-Litaney, auf den Leidens-Puncten gerichtet sind? Sie führen viel feines mit sich. Es werden darin aus den bekannten evangeli- schen Kirchenliedern oft solche vortreffliche Rei- men wiederholet, die aus dem neuen Vortrag wie Sterne heraus funkeln, und denselben leb- und schmackhaft machen: der Eindruck von des Ordinarii vormaligen innigen Rührung ist im Gemüthe oder wenigstens im Gedächtniß un- auslöschlich: die ungewohnliche Combination des Leidens-Puncten mit andern Lehren, die man sonst nicht so nahe mit demselben verknüpf- te, gibt mancherley neue Farben und einen un- erschöpflichen Zufluß von niedlichen Einfällen, die zwar den Kopf vielmehr, als das Herz an- gehen, und dabey wird eine sinnreiche oratori- sche und poetische Variation angebracht, die eines theils für ein Meisterstück in der Wort- Kunst erkannt werden muß, andern theils aber wegen deren dazu gekommenen Ausschweiffun- gen zu einer Battologie und ungesalbten Ge- schwätze ausschläget. Wird das leztere durch die Anmuth der musicalischen Composition be- decket, und zu Elegantien gemachet, so ist da- gegen noch mehr zu bejammern, daß bey dem starken Treiben des einigen Leidens-Puncten durch die übermachte Anmaassung für die neu-
mähri-
TheilI.Cap.I.Satz 14.
§ 79.
Was iſt denn daran, daß bey der neumaͤh- riſchen Gemeine die allermeiſte Lieder, und alle ihres Stifters Reden, ſonderlich uͤber die Wunden-Litaney, auf den Leidens-Puncten gerichtet ſind? Sie fuͤhren viel feines mit ſich. Es werden darin aus den bekannten evangeli- ſchen Kirchenliedern oft ſolche vortreffliche Rei- men wiederholet, die aus dem neuen Vortrag wie Sterne heraus funkeln, und denſelben leb- und ſchmackhaft machen: der Eindruck von des Ordinarii vormaligen innigen Ruͤhrung iſt im Gemuͤthe oder wenigſtens im Gedaͤchtniß un- ausloͤſchlich: die ungewohnliche Combination des Leidens-Puncten mit andern Lehren, die man ſonſt nicht ſo nahe mit demſelben verknuͤpf- te, gibt mancherley neue Farben und einen un- erſchoͤpflichen Zufluß von niedlichen Einfaͤllen, die zwar den Kopf vielmehr, als das Herz an- gehen, und dabey wird eine ſinnreiche oratori- ſche und poetiſche Variation angebracht, die eines theils fuͤr ein Meiſterſtuͤck in der Wort- Kunſt erkannt werden muß, andern theils aber wegen deren dazu gekommenen Ausſchweiffun- gen zu einer Battologie und ungeſalbten Ge- ſchwaͤtze ausſchlaͤget. Wird das leztere durch die Anmuth der muſicaliſchen Compoſition be- decket, und zu Elegantien gemachet, ſo iſt da- gegen noch mehr zu bejammern, daß bey dem ſtarken Treiben des einigen Leidens-Puncten durch die uͤbermachte Anmaaſſung fuͤr die neu-
maͤhri-
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Theil I. Cap. I. Satz 14.
§ 79.
Was iſt denn daran, daß bey der neumaͤh-
riſchen Gemeine die allermeiſte Lieder, und alle
ihres Stifters Reden, ſonderlich uͤber die
Wunden-Litaney, auf den Leidens-Puncten
gerichtet ſind? Sie fuͤhren viel feines mit ſich.
Es werden darin aus den bekannten evangeli-
ſchen Kirchenliedern oft ſolche vortreffliche Rei-
men wiederholet, die aus dem neuen Vortrag
wie Sterne heraus funkeln, und denſelben leb-
und ſchmackhaft machen: der Eindruck von des
Ordinarii vormaligen innigen Ruͤhrung iſt im
Gemuͤthe oder wenigſtens im Gedaͤchtniß un-
ausloͤſchlich: die ungewohnliche Combination
des Leidens-Puncten mit andern Lehren, die
man ſonſt nicht ſo nahe mit demſelben verknuͤpf-
te, gibt mancherley neue Farben und einen un-
erſchoͤpflichen Zufluß von niedlichen Einfaͤllen,
die zwar den Kopf vielmehr, als das Herz an-
gehen, und dabey wird eine ſinnreiche oratori-
ſche und poetiſche Variation angebracht, die
eines theils fuͤr ein Meiſterſtuͤck in der Wort-
Kunſt erkannt werden muß, andern theils aber
wegen deren dazu gekommenen Ausſchweiffun-
gen zu einer Battologie und ungeſalbten Ge-
ſchwaͤtze ausſchlaͤget. Wird das leztere durch
die Anmuth der muſicaliſchen Compoſition be-
decket, und zu Elegantien gemachet, ſo iſt da-
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durch die uͤbermachte Anmaaſſung fuͤr die neu-
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Bengel, Johann Albrecht: Abriß der so genannten Brüdergemeine. Bd. 1. Stuttgart, 1751, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bengel_abriss01_1751/104>, abgerufen am 16.07.2024.
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