flachen Stromlandes forderte diese armen Bergbewohner zu Raub und Eroberung geradezu heraus. Während in Ägypten die Kultur sich friedlich und stetig entwickelte, sehen wir in Mesopotamien sich eine Umwälzung auf die andere folgen. Die ganze Geschichte des Landes ist eine Aufeinderfolge von Eroberungen, Glanzzeiten grosser Gemein- wesen, denen jäher Sturz und Zerstörung folgen. Solche Verhältnisse mussten den Eingeborenen einen kräftigeren, härteren, grausameren Charakter aufprägen im Vergleich mit den friedfertigeren, heiteren, harmloseren Ägyptern. Auf diesen allgemeinen Kulturbedingungen baute sich die wechselnde Geschichte der Euphratländer auf. Über seine Urgeschichte wissen wir wenig bestimmtes. Berosus, ein Priester am Tempel des Bel zu Babylon, hat unter Antiochus Soter (von 282 bis 262 v. Chr.) eine Geschichte seines Landes, ähnlich wie Manetho in Ägypten, verfasst, von der uns nur wenige Bruchstücke erhalten sind. Aus seinen Zeitangaben und Herrschertafeln würde ein ungeheures Alter der babylonischen Geschichte folgen, ungefähr dieselbe Zahl von Jahren, die Diodor angiebt, nämlich 473000 Jahre, während Plinius diese Zahl sogar auf 720000 erhöht.
Diese Zahlen sind, wie die Urgeschichte des Landes, sagenhaft; immerhin ist der Inhalt der Erzählung des Berosus bemerkenswert. Nachdem er die Entstehung der Welt und die Erschaffung der Menschen geschildert hat, berichtete er über die Zivilisation Mesopota- miens Folgendes 1):
"Es war eine grosse Menge von Menschen verschiedenen Stammes, die Chaldäa bewohnten, aber sie lebten ohne Ordnung wie die Tiere. Da erschien ihnen aus dem Meere am Ufer Babyloniens ein weises Wesen, des Namens "Oan". Es war dies ein Fischmensch, mit dem Oberleib eines Mannes und dem Schwanz eines Fisches. Am Morgen kam dies Wesen und verkehrte am Tage mit den Menschen. Es nahm keine Nahrung und tauchte mit Sonnenuntergang wieder in das Meer. Dieses Wesen lehrte den Menschen ihre Sprache und Wissen, das Ein- sammeln des Samens und der Früchte, die Regeln der Grenze, die Er- bauung von Städten und Tempeln, die Künste und die Schrift und alles, was zur Sittigung des menschlichen Lebens gehört." Auf Oans Ver- anlassung erwählte das Volk einen König, den Gründer der ersten Dynastie, die 432000 Jahre über das Land herrschte. Da kam die Sintflut. Xisuthros baute eine Arche, die in dem armenischen Gebirge wieder aufs trockne Land kam. Die Götter versöhnten sich mit Xisu-
1) Berosi fragm. 1. ed. Müller. -- Dunker, Geschichte des Altertums I, 231.
Die Semiten.
flachen Stromlandes forderte diese armen Bergbewohner zu Raub und Eroberung geradezu heraus. Während in Ägypten die Kultur sich friedlich und stetig entwickelte, sehen wir in Mesopotamien sich eine Umwälzung auf die andere folgen. Die ganze Geschichte des Landes ist eine Aufeinderfolge von Eroberungen, Glanzzeiten groſser Gemein- wesen, denen jäher Sturz und Zerstörung folgen. Solche Verhältnisse muſsten den Eingeborenen einen kräftigeren, härteren, grausameren Charakter aufprägen im Vergleich mit den friedfertigeren, heiteren, harmloseren Ägyptern. Auf diesen allgemeinen Kulturbedingungen baute sich die wechselnde Geschichte der Euphratländer auf. Über seine Urgeschichte wissen wir wenig bestimmtes. Berosus, ein Priester am Tempel des Bel zu Babylon, hat unter Antiochus Soter (von 282 bis 262 v. Chr.) eine Geschichte seines Landes, ähnlich wie Manetho in Ägypten, verfaſst, von der uns nur wenige Bruchstücke erhalten sind. Aus seinen Zeitangaben und Herrschertafeln würde ein ungeheures Alter der babylonischen Geschichte folgen, ungefähr dieselbe Zahl von Jahren, die Diodor angiebt, nämlich 473000 Jahre, während Plinius diese Zahl sogar auf 720000 erhöht.
Diese Zahlen sind, wie die Urgeschichte des Landes, sagenhaft; immerhin ist der Inhalt der Erzählung des Berosus bemerkenswert. Nachdem er die Entstehung der Welt und die Erschaffung der Menschen geschildert hat, berichtete er über die Zivilisation Mesopota- miens Folgendes 1):
„Es war eine groſse Menge von Menschen verschiedenen Stammes, die Chaldäa bewohnten, aber sie lebten ohne Ordnung wie die Tiere. Da erschien ihnen aus dem Meere am Ufer Babyloniens ein weises Wesen, des Namens „Oan“. Es war dies ein Fischmensch, mit dem Oberleib eines Mannes und dem Schwanz eines Fisches. Am Morgen kam dies Wesen und verkehrte am Tage mit den Menschen. Es nahm keine Nahrung und tauchte mit Sonnenuntergang wieder in das Meer. Dieses Wesen lehrte den Menschen ihre Sprache und Wissen, das Ein- sammeln des Samens und der Früchte, die Regeln der Grenze, die Er- bauung von Städten und Tempeln, die Künste und die Schrift und alles, was zur Sittigung des menschlichen Lebens gehört.“ Auf Oans Ver- anlassung erwählte das Volk einen König, den Gründer der ersten Dynastie, die 432000 Jahre über das Land herrschte. Da kam die Sintflut. Xisuthros baute eine Arche, die in dem armenischen Gebirge wieder aufs trockne Land kam. Die Götter versöhnten sich mit Xisu-
1) Berosi fragm. 1. ed. Müller. — Dunker, Geschichte des Altertums I, 231.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0127"n="105"/><fwplace="top"type="header">Die Semiten.</fw><lb/>
flachen Stromlandes forderte diese armen Bergbewohner zu Raub und<lb/>
Eroberung geradezu heraus. Während in Ägypten die Kultur sich<lb/>
friedlich und stetig entwickelte, sehen wir in Mesopotamien sich eine<lb/>
Umwälzung auf die andere folgen. Die ganze Geschichte des Landes<lb/>
ist eine Aufeinderfolge von Eroberungen, Glanzzeiten groſser Gemein-<lb/>
wesen, denen jäher Sturz und Zerstörung folgen. Solche Verhältnisse<lb/>
muſsten den Eingeborenen einen kräftigeren, härteren, grausameren<lb/>
Charakter aufprägen im Vergleich mit den friedfertigeren, heiteren,<lb/>
harmloseren Ägyptern. Auf diesen allgemeinen Kulturbedingungen<lb/>
baute sich die wechselnde Geschichte der Euphratländer auf. Über<lb/>
seine Urgeschichte wissen wir wenig bestimmtes. Berosus, ein Priester<lb/>
am Tempel des Bel zu Babylon, hat unter Antiochus Soter (von 282<lb/>
bis 262 v. Chr.) eine Geschichte seines Landes, ähnlich wie Manetho in<lb/>
Ägypten, verfaſst, von der uns nur wenige Bruchstücke erhalten sind.<lb/>
Aus seinen Zeitangaben und Herrschertafeln würde ein ungeheures Alter<lb/>
der babylonischen Geschichte folgen, ungefähr dieselbe Zahl von Jahren,<lb/>
die Diodor angiebt, nämlich 473000 Jahre, während Plinius diese Zahl<lb/>
sogar auf 720000 erhöht.</p><lb/><p>Diese Zahlen sind, wie die Urgeschichte des Landes, sagenhaft;<lb/>
immerhin ist der Inhalt der Erzählung des Berosus bemerkenswert.<lb/>
Nachdem er die Entstehung der Welt und die Erschaffung der<lb/>
Menschen geschildert hat, berichtete er über die Zivilisation Mesopota-<lb/>
miens Folgendes <noteplace="foot"n="1)">Berosi fragm. 1. ed. Müller. — Dunker, Geschichte des Altertums I, 231.</note>:</p><lb/><p>„Es war eine groſse Menge von Menschen verschiedenen Stammes,<lb/>
die Chaldäa bewohnten, aber sie lebten ohne Ordnung wie die Tiere.<lb/>
Da erschien ihnen aus dem Meere am Ufer Babyloniens ein weises<lb/>
Wesen, des Namens „Oan“. Es war dies ein Fischmensch, mit dem<lb/>
Oberleib eines Mannes und dem Schwanz eines Fisches. Am Morgen<lb/>
kam dies Wesen und verkehrte am Tage mit den Menschen. Es nahm<lb/>
keine Nahrung und tauchte mit Sonnenuntergang wieder in das Meer.<lb/>
Dieses Wesen lehrte den Menschen ihre Sprache und Wissen, das Ein-<lb/>
sammeln des Samens und der Früchte, die Regeln der Grenze, die Er-<lb/>
bauung von Städten und Tempeln, die Künste und die Schrift und alles,<lb/>
was zur Sittigung des menschlichen Lebens gehört.“ Auf Oans Ver-<lb/>
anlassung erwählte das Volk einen König, den Gründer der ersten<lb/>
Dynastie, die 432000 Jahre über das Land herrschte. Da kam die<lb/>
Sintflut. Xisuthros baute eine Arche, die in dem armenischen Gebirge<lb/>
wieder aufs trockne Land kam. Die Götter versöhnten sich mit Xisu-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[105/0127]
Die Semiten.
flachen Stromlandes forderte diese armen Bergbewohner zu Raub und
Eroberung geradezu heraus. Während in Ägypten die Kultur sich
friedlich und stetig entwickelte, sehen wir in Mesopotamien sich eine
Umwälzung auf die andere folgen. Die ganze Geschichte des Landes
ist eine Aufeinderfolge von Eroberungen, Glanzzeiten groſser Gemein-
wesen, denen jäher Sturz und Zerstörung folgen. Solche Verhältnisse
muſsten den Eingeborenen einen kräftigeren, härteren, grausameren
Charakter aufprägen im Vergleich mit den friedfertigeren, heiteren,
harmloseren Ägyptern. Auf diesen allgemeinen Kulturbedingungen
baute sich die wechselnde Geschichte der Euphratländer auf. Über
seine Urgeschichte wissen wir wenig bestimmtes. Berosus, ein Priester
am Tempel des Bel zu Babylon, hat unter Antiochus Soter (von 282
bis 262 v. Chr.) eine Geschichte seines Landes, ähnlich wie Manetho in
Ägypten, verfaſst, von der uns nur wenige Bruchstücke erhalten sind.
Aus seinen Zeitangaben und Herrschertafeln würde ein ungeheures Alter
der babylonischen Geschichte folgen, ungefähr dieselbe Zahl von Jahren,
die Diodor angiebt, nämlich 473000 Jahre, während Plinius diese Zahl
sogar auf 720000 erhöht.
Diese Zahlen sind, wie die Urgeschichte des Landes, sagenhaft;
immerhin ist der Inhalt der Erzählung des Berosus bemerkenswert.
Nachdem er die Entstehung der Welt und die Erschaffung der
Menschen geschildert hat, berichtete er über die Zivilisation Mesopota-
miens Folgendes 1):
„Es war eine groſse Menge von Menschen verschiedenen Stammes,
die Chaldäa bewohnten, aber sie lebten ohne Ordnung wie die Tiere.
Da erschien ihnen aus dem Meere am Ufer Babyloniens ein weises
Wesen, des Namens „Oan“. Es war dies ein Fischmensch, mit dem
Oberleib eines Mannes und dem Schwanz eines Fisches. Am Morgen
kam dies Wesen und verkehrte am Tage mit den Menschen. Es nahm
keine Nahrung und tauchte mit Sonnenuntergang wieder in das Meer.
Dieses Wesen lehrte den Menschen ihre Sprache und Wissen, das Ein-
sammeln des Samens und der Früchte, die Regeln der Grenze, die Er-
bauung von Städten und Tempeln, die Künste und die Schrift und alles,
was zur Sittigung des menschlichen Lebens gehört.“ Auf Oans Ver-
anlassung erwählte das Volk einen König, den Gründer der ersten
Dynastie, die 432000 Jahre über das Land herrschte. Da kam die
Sintflut. Xisuthros baute eine Arche, die in dem armenischen Gebirge
wieder aufs trockne Land kam. Die Götter versöhnten sich mit Xisu-
1) Berosi fragm. 1. ed. Müller. — Dunker, Geschichte des Altertums I, 231.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884/127>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.