Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode.

Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf's Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot -- du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! -- Nun gehe -- sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem wohl leben ist es längst vorüber!

Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß

Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode.

Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf’s Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot — du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! — Nun gehe — sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem wohl leben ist es längst vorüber!

Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0045" n="41"/>
Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode.</p>
          <p>Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf&#x2019;s Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot &#x2014; du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! &#x2014; Nun gehe &#x2014; sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem <hi rendition="#g">wohl</hi> leben ist es längst vorüber!</p>
          <p>Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0045] Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode. Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf’s Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot — du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! — Nun gehe — sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem wohl leben ist es längst vorüber! Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2013-01-22T14:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
austrian literature online: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-22T14:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-22T14:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Der Zeilenfall wurde aufgehoben, die Absätze beibehalten.
  • Silbentrennungen über Seitengrenzen hinweg werden beibehalten.
  • Die Majuskel J im Frakturdruck wird in der Transkription je nach Lautwert als I bzw. J wiedergegeben.
  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bechstein_dunkelgraf_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bechstein_dunkelgraf_1854/45
Zitationshilfe: Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bechstein_dunkelgraf_1854/45>, abgerufen am 24.11.2024.