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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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Dazu würden in das ganze Leben, in die Erziehung und die Sitten von
Familien und Generationen einschneidende, die bürgerliche Rechtsgleichheit selbst
wieder aufhebende, it einem Wort tiefere Unterschiede gehören, als eine ober-
flächliche und bewegliche Vermögenseintheilung. Auch das lehrt schon der antike
Staat unwiderleglich. Wo nicht im Alterthum von vornherein die politische
Gleichheit verfassungsmäßig gegründet ward, da haben auch niemals timokratische
Einrichtungen*), deren endliche Entwicklung verhindern können. Und dennoch
waren dieselben im Alterthum mehr dazu geeignet, als sie es heute sein
würden. Jm Alterthum stuften sich auch die politischen Pflichten nach den
Rechten ab, während dies in dem heutigen preußischen Versuch nicht der Fall
und auch bei den Bedürfnissen des modernen Staats unmöglich ist. Damals
war die letzte Klasse frei von Steuer und Kriegsdienst, die ersteren Klassen trugen
bei ihren größeren politischen Rechten auch die Kosten der Staatsverwaltung
und Kriegführung allein. Die heutigen Einrichtungen können aber weder
die Steuern noch die Kriegsdienste der letzten Klasse entbehren; diese
lasten vielmehr hauptsächlich auf ihr. Mit doppelter Berechtigung
verlangen daher auch die Proletarier bei uns die Gleichheit der
Stimme, mit doppelter Gewalt wird daher auch bei uns die bürger-
liche gleichberechtigte, die politisch schon gleich verpflichtete Menge
jene schwachen Schranken des Geldes durchbrechen, die sie von der
politischen gleichen Berechtigung abhalten sollen. Wenn der ge-
schichtliche Zug einmal gegeben ist, so dient ihm Alles, Weisheit
und Thorheit, Recht und Unrecht, Segen und Fluch
."

Dieser geschichtliche Zug, von dem Robbertus spricht, ist vorhanden, und
speziell die Sozialdemokratie kann von sich sagen, daß Alles, was ihre
Gegner noch zu ihrem Verderben ausgedacht, schließlich zu ihren
Gunsten sich gestaltet hat
.

Der Schrei der oberen Klassen nach Rückschritt, immer mehr Rückschritt,
wird durch den zehnfach verdoppelten Schrei von Unten nach Fort-
schritt, immer mehr Fortschritt, nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit
übertönt werden
. Die Massen haben es satt, die oberen Klassen über ihr
Schicksal entscheiden zu lassen, sie wollen selbst ihre Geschicke lenken. Darum der
Ruf nach dem allgemeinen Stimmrecht, so weit die deutsche Zunge klingt.

Mögen die herrschenden Klassen nicht vergessen, daß wenn einmal in
Europa der große Generalmarsch geschlagen wird, auf den hin zwölf bis
fünfzehn Millionen Männer von Waffen starrend in das Feld rücken, nur
das Volk seine nationale Existenz bewahren kann, das sich bewusst ist, ein
Vaterland zn besitzen, das sich der Mühe lohnt, es auch zu vertheidigen.




Druck von Max Bading, Berlin SW., Beuth-Straße 2.

*) Einrichtungen, die auf den Reichthum gegründet sind.

Dazu würden in das ganze Leben, in die Erziehung und die Sitten von
Familien und Generationen einschneidende, die bürgerliche Rechtsgleichheit selbst
wieder aufhebende, it einem Wort tiefere Unterschiede gehören, als eine ober-
flächliche und bewegliche Vermögenseintheilung. Auch das lehrt schon der antike
Staat unwiderleglich. Wo nicht im Alterthum von vornherein die politische
Gleichheit verfassungsmäßig gegründet ward, da haben auch niemals timokratische
Einrichtungen*), deren endliche Entwicklung verhindern können. Und dennoch
waren dieselben im Alterthum mehr dazu geeignet, als sie es heute sein
würden. Jm Alterthum stuften sich auch die politischen Pflichten nach den
Rechten ab, während dies in dem heutigen preußischen Versuch nicht der Fall
und auch bei den Bedürfnissen des modernen Staats unmöglich ist. Damals
war die letzte Klasse frei von Steuer und Kriegsdienst, die ersteren Klassen trugen
bei ihren größeren politischen Rechten auch die Kosten der Staatsverwaltung
und Kriegführung allein. Die heutigen Einrichtungen können aber weder
die Steuern noch die Kriegsdienste der letzten Klasse entbehren; diese
lasten vielmehr hauptsächlich auf ihr. Mit doppelter Berechtigung
verlangen daher auch die Proletarier bei uns die Gleichheit der
Stimme, mit doppelter Gewalt wird daher auch bei uns die bürger-
liche gleichberechtigte, die politisch schon gleich verpflichtete Menge
jene schwachen Schranken des Geldes durchbrechen, die sie von der
politischen gleichen Berechtigung abhalten sollen. Wenn der ge-
schichtliche Zug einmal gegeben ist, so dient ihm Alles, Weisheit
und Thorheit, Recht und Unrecht, Segen und Fluch
.“

Dieser geschichtliche Zug, von dem Robbertus spricht, ist vorhanden, und
speziell die Sozialdemokratie kann von sich sagen, daß Alles, was ihre
Gegner noch zu ihrem Verderben ausgedacht, schließlich zu ihren
Gunsten sich gestaltet hat
.

Der Schrei der oberen Klassen nach Rückschritt, immer mehr Rückschritt,
wird durch den zehnfach verdoppelten Schrei von Unten nach Fort-
schritt, immer mehr Fortschritt, nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit
übertönt werden
. Die Massen haben es satt, die oberen Klassen über ihr
Schicksal entscheiden zu lassen, sie wollen selbst ihre Geschicke lenken. Darum der
Ruf nach dem allgemeinen Stimmrecht, so weit die deutsche Zunge klingt.

Mögen die herrschenden Klassen nicht vergessen, daß wenn einmal in
Europa der große Generalmarsch geschlagen wird, auf den hin zwölf bis
fünfzehn Millionen Männer von Waffen starrend in das Feld rücken, nur
das Volk seine nationale Existenz bewahren kann, das sich bewusst ist, ein
Vaterland zn besitzen, das sich der Mühe lohnt, es auch zu vertheidigen.




Druck von Max Bading, Berlin SW., Beuth-Straße 2.

*) Einrichtungen, die auf den Reichthum gegründet sind.
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[56/0060] Dazu würden in das ganze Leben, in die Erziehung und die Sitten von Familien und Generationen einschneidende, die bürgerliche Rechtsgleichheit selbst wieder aufhebende, it einem Wort tiefere Unterschiede gehören, als eine ober- flächliche und bewegliche Vermögenseintheilung. Auch das lehrt schon der antike Staat unwiderleglich. Wo nicht im Alterthum von vornherein die politische Gleichheit verfassungsmäßig gegründet ward, da haben auch niemals timokratische Einrichtungen *), deren endliche Entwicklung verhindern können. Und dennoch waren dieselben im Alterthum mehr dazu geeignet, als sie es heute sein würden. Jm Alterthum stuften sich auch die politischen Pflichten nach den Rechten ab, während dies in dem heutigen preußischen Versuch nicht der Fall und auch bei den Bedürfnissen des modernen Staats unmöglich ist. Damals war die letzte Klasse frei von Steuer und Kriegsdienst, die ersteren Klassen trugen bei ihren größeren politischen Rechten auch die Kosten der Staatsverwaltung und Kriegführung allein. Die heutigen Einrichtungen können aber weder die Steuern noch die Kriegsdienste der letzten Klasse entbehren; diese lasten vielmehr hauptsächlich auf ihr. Mit doppelter Berechtigung verlangen daher auch die Proletarier bei uns die Gleichheit der Stimme, mit doppelter Gewalt wird daher auch bei uns die bürger- liche gleichberechtigte, die politisch schon gleich verpflichtete Menge jene schwachen Schranken des Geldes durchbrechen, die sie von der politischen gleichen Berechtigung abhalten sollen. Wenn der ge- schichtliche Zug einmal gegeben ist, so dient ihm Alles, Weisheit und Thorheit, Recht und Unrecht, Segen und Fluch.“ Dieser geschichtliche Zug, von dem Robbertus spricht, ist vorhanden, und speziell die Sozialdemokratie kann von sich sagen, daß Alles, was ihre Gegner noch zu ihrem Verderben ausgedacht, schließlich zu ihren Gunsten sich gestaltet hat. Der Schrei der oberen Klassen nach Rückschritt, immer mehr Rückschritt, wird durch den zehnfach verdoppelten Schrei von Unten nach Fort- schritt, immer mehr Fortschritt, nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit übertönt werden. Die Massen haben es satt, die oberen Klassen über ihr Schicksal entscheiden zu lassen, sie wollen selbst ihre Geschicke lenken. Darum der Ruf nach dem allgemeinen Stimmrecht, so weit die deutsche Zunge klingt. Mögen die herrschenden Klassen nicht vergessen, daß wenn einmal in Europa der große Generalmarsch geschlagen wird, auf den hin zwölf bis fünfzehn Millionen Männer von Waffen starrend in das Feld rücken, nur das Volk seine nationale Existenz bewahren kann, das sich bewusst ist, ein Vaterland zn besitzen, das sich der Mühe lohnt, es auch zu vertheidigen. Druck von Max Bading, Berlin SW., Beuth-Straße 2. *) Einrichtungen, die auf den Reichthum gegründet sind.

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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/60>, abgerufen am 28.11.2024.