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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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Es gab allerdings eine Zeit, es ist freilich schon etwas lange her, in der das
Organ dieser Klasse am Rhein, die " Kölnische Zeitung", über das allgemeine gleiche
direkte Wahlrecht ganz anders dachte. Damals schrieb das edle Blatt:

"Man kann sagen - und hat es oftmals gesagt -, daß Vermögen keine
sichere Bürgschaft gewährt für Rechtlichkeit, Geschicklichkeit und Vaterlandsliebe,
daß es Pöbel unter allen Ständen gebe und der vornehme noch gefährlicher sei
als der geringe. Erzeugt man nicht Pöbel, indem man alle Besitzlosen oder
wenig Begüterten zu Pöbel stempelt? Wird nicht die bürgerliche Ordnung da-
durch befestigt, daß Jeder innerhalb derselben eine Stelle findet? Man kann
endlich sich auf einen höheren Standpunkt stellen, und den Staat nicht mehr als
Zweck betrachten, sondern als bloßes Mittel. Er ist eine Erziehungsanstalt der
Menschheit. Und wozu soll ein jeder Mensch erzogen werden, wenn nicht zur
Selbständigkeit? Selbständigkeit, eine Persönlichkeit, welche ihr Gesetz in sich hat,
ist die Blüthe dieses Lebens und der Keim des zukünftigen. Wie kann aber Jemand
zur Selbständigkeit gelangen, welcher nicht selbst einen Willen haben darf, sondern
stets dem Willen Anderer folgen muß?

Doch über alle solche allgemeine Betrachtungen werden Machiavelli's Jünger
nur lächeln und fortfahren, von der Unmündigkeit des großen Haufens zu reden;
denn sie wollen diese Verleumdung der Menschheit, wie alles Uebrige, aus guter
Hand haben, aus der Erfahrung. Wohlan, so laßt uns die Erfahrung fragen,
was lehrt sie uns? Sie lehrt uns, daß Versammlungen, welche aus
Geistlichen, Adeligen und Hochbesteuerten bestanden, stets und aller
Orten Gesetze gemacht haben, die ihren eigenen Vortheil zunächst be-
förderten, und es ist beinahe lächerlich, etwas Anderes zu erwarten.
Sie lehrt uns, daß in jedem Staate, wo die Minderheit Gesetze giebt,
die Mehrheit unzufrieden ist
.

Und das Vertrauen, welches der Staat in seine Bürger durch Verleihung
des allgemeinen Stimmrechts setzt, bewährt sich - auf glänzende Weise. Der
Mensch fängt unter der freien Verfassung selbst zu denken und zu reden an. Er
wird wie umgewandelt. Er wirft seine Blödigkeit ab, ein neuer Geist, ein Pfingsten
kommt über ihn, er spricht beherzt seine Meinung aus und zeigt oft mehr Verstand
und politische Reife, als manches Mitglied der preußischen Herren-Kurie, als
mancher deutsche Professor des Staatsrechts. So wahr ist es, daß nur die Frei-
heit zur Freiheit erzieht."

So die große rheinische Vettel nach den Märztagen von 1848. Heute
redet sie in einer ganz anderen Sprache. Der freie Mensch von 1848, der selbst
denkt und redet und oft mehr Wissen und politische Reife besaß, als manches
Mitglied der preußischen Herrenkurie oder als mancher deutscher Professor des
Staatsrechts (Nachbarin, euer Fläschchen! Der Verf.), ist heute am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts politisch unwissend, roh, dünkelhaft, von der Phrase be-
einflußt, er gehört mit einem Wort zum Pöbel.

Die Partei der "Kölnischen Zeitung", die nationalliberale Partei, konnte bis-
her das allgemeine gleiche Wahlrecht noch nicht beseitigen, so suchte sie wenigstens
seine Wirkungen einzudämmen. Herr v. Bennigsen brachte im Jahre 1887 im
Kartellreichstag, in dem eine Majorität ihm sicher war, den Antrag ein, die
Wahlperioden von drei Jahren auf fünf Jahre zu verlängern. Und so geschah
es. Man hatte die Stirn, die Verlängerung der Wahlperioden mit der all-
gemeinen Wahlmüdigkeit zu begründen. Wahlmüde ist aber nur die Bourgeoisie,
weil sie die Wahlen als ein Volksgericht fürchtet. Die Wahlbetheiligung bei den
Reichstagswahlen hat sich, wie nachgewiesen wurde, stetig gehoben, dagegen ist die
Wahlbetheiligung bei dem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlsysteme, dem
Dreiklassenwahlsystem, beständig gesunken.

Heute muß in Deutschland das allgemeine Wahlrecht gegen die Angriffe
seiner offenen und heimlichen Feinde vertheidigt werden, an eine Ausdehnung des-
selben auf die Wahl der Landtage denkt in den bürgerlichen Parteien ernstlich

Es gab allerdings eine Zeit, es ist freilich schon etwas lange her, in der das
Organ dieser Klasse am Rhein, die „ Kölnische Zeitung“, über das allgemeine gleiche
direkte Wahlrecht ganz anders dachte. Damals schrieb das edle Blatt:

„Man kann sagen – und hat es oftmals gesagt –, daß Vermögen keine
sichere Bürgschaft gewährt für Rechtlichkeit, Geschicklichkeit und Vaterlandsliebe,
daß es Pöbel unter allen Ständen gebe und der vornehme noch gefährlicher sei
als der geringe. Erzeugt man nicht Pöbel, indem man alle Besitzlosen oder
wenig Begüterten zu Pöbel stempelt? Wird nicht die bürgerliche Ordnung da-
durch befestigt, daß Jeder innerhalb derselben eine Stelle findet? Man kann
endlich sich auf einen höheren Standpunkt stellen, und den Staat nicht mehr als
Zweck betrachten, sondern als bloßes Mittel. Er ist eine Erziehungsanstalt der
Menschheit. Und wozu soll ein jeder Mensch erzogen werden, wenn nicht zur
Selbständigkeit? Selbständigkeit, eine Persönlichkeit, welche ihr Gesetz in sich hat,
ist die Blüthe dieses Lebens und der Keim des zukünftigen. Wie kann aber Jemand
zur Selbständigkeit gelangen, welcher nicht selbst einen Willen haben darf, sondern
stets dem Willen Anderer folgen muß?

Doch über alle solche allgemeine Betrachtungen werden Machiavelli's Jünger
nur lächeln und fortfahren, von der Unmündigkeit des großen Haufens zu reden;
denn sie wollen diese Verleumdung der Menschheit, wie alles Uebrige, aus guter
Hand haben, aus der Erfahrung. Wohlan, so laßt uns die Erfahrung fragen,
was lehrt sie uns? Sie lehrt uns, daß Versammlungen, welche aus
Geistlichen, Adeligen und Hochbesteuerten bestanden, stets und aller
Orten Gesetze gemacht haben, die ihren eigenen Vortheil zunächst be-
förderten, und es ist beinahe lächerlich, etwas Anderes zu erwarten.
Sie lehrt uns, daß in jedem Staate, wo die Minderheit Gesetze giebt,
die Mehrheit unzufrieden ist
.

Und das Vertrauen, welches der Staat in seine Bürger durch Verleihung
des allgemeinen Stimmrechts setzt, bewährt sich – auf glänzende Weise. Der
Mensch fängt unter der freien Verfassung selbst zu denken und zu reden an. Er
wird wie umgewandelt. Er wirft seine Blödigkeit ab, ein neuer Geist, ein Pfingsten
kommt über ihn, er spricht beherzt seine Meinung aus und zeigt oft mehr Verstand
und politische Reife, als manches Mitglied der preußischen Herren-Kurie, als
mancher deutsche Professor des Staatsrechts. So wahr ist es, daß nur die Frei-
heit zur Freiheit erzieht.“

So die große rheinische Vettel nach den Märztagen von 1848. Heute
redet sie in einer ganz anderen Sprache. Der freie Mensch von 1848, der selbst
denkt und redet und oft mehr Wissen und politische Reife besaß, als manches
Mitglied der preußischen Herrenkurie oder als mancher deutscher Professor des
Staatsrechts (Nachbarin, euer Fläschchen! Der Verf.), ist heute am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts politisch unwissend, roh, dünkelhaft, von der Phrase be-
einflußt, er gehört mit einem Wort zum Pöbel.

Die Partei der „Kölnischen Zeitung“, die nationalliberale Partei, konnte bis-
her das allgemeine gleiche Wahlrecht noch nicht beseitigen, so suchte sie wenigstens
seine Wirkungen einzudämmen. Herr v. Bennigsen brachte im Jahre 1887 im
Kartellreichstag, in dem eine Majorität ihm sicher war, den Antrag ein, die
Wahlperioden von drei Jahren auf fünf Jahre zu verlängern. Und so geschah
es. Man hatte die Stirn, die Verlängerung der Wahlperioden mit der all-
gemeinen Wahlmüdigkeit zu begründen. Wahlmüde ist aber nur die Bourgeoisie,
weil sie die Wahlen als ein Volksgericht fürchtet. Die Wahlbetheiligung bei den
Reichstagswahlen hat sich, wie nachgewiesen wurde, stetig gehoben, dagegen ist die
Wahlbetheiligung bei dem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlsysteme, dem
Dreiklassenwahlsystem, beständig gesunken.

Heute muß in Deutschland das allgemeine Wahlrecht gegen die Angriffe
seiner offenen und heimlichen Feinde vertheidigt werden, an eine Ausdehnung des-
selben auf die Wahl der Landtage denkt in den bürgerlichen Parteien ernstlich

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[47/0051] Es gab allerdings eine Zeit, es ist freilich schon etwas lange her, in der das Organ dieser Klasse am Rhein, die „ Kölnische Zeitung“, über das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht ganz anders dachte. Damals schrieb das edle Blatt: „Man kann sagen – und hat es oftmals gesagt –, daß Vermögen keine sichere Bürgschaft gewährt für Rechtlichkeit, Geschicklichkeit und Vaterlandsliebe, daß es Pöbel unter allen Ständen gebe und der vornehme noch gefährlicher sei als der geringe. Erzeugt man nicht Pöbel, indem man alle Besitzlosen oder wenig Begüterten zu Pöbel stempelt? Wird nicht die bürgerliche Ordnung da- durch befestigt, daß Jeder innerhalb derselben eine Stelle findet? Man kann endlich sich auf einen höheren Standpunkt stellen, und den Staat nicht mehr als Zweck betrachten, sondern als bloßes Mittel. Er ist eine Erziehungsanstalt der Menschheit. Und wozu soll ein jeder Mensch erzogen werden, wenn nicht zur Selbständigkeit? Selbständigkeit, eine Persönlichkeit, welche ihr Gesetz in sich hat, ist die Blüthe dieses Lebens und der Keim des zukünftigen. Wie kann aber Jemand zur Selbständigkeit gelangen, welcher nicht selbst einen Willen haben darf, sondern stets dem Willen Anderer folgen muß? Doch über alle solche allgemeine Betrachtungen werden Machiavelli's Jünger nur lächeln und fortfahren, von der Unmündigkeit des großen Haufens zu reden; denn sie wollen diese Verleumdung der Menschheit, wie alles Uebrige, aus guter Hand haben, aus der Erfahrung. Wohlan, so laßt uns die Erfahrung fragen, was lehrt sie uns? Sie lehrt uns, daß Versammlungen, welche aus Geistlichen, Adeligen und Hochbesteuerten bestanden, stets und aller Orten Gesetze gemacht haben, die ihren eigenen Vortheil zunächst be- förderten, und es ist beinahe lächerlich, etwas Anderes zu erwarten. Sie lehrt uns, daß in jedem Staate, wo die Minderheit Gesetze giebt, die Mehrheit unzufrieden ist. Und das Vertrauen, welches der Staat in seine Bürger durch Verleihung des allgemeinen Stimmrechts setzt, bewährt sich – auf glänzende Weise. Der Mensch fängt unter der freien Verfassung selbst zu denken und zu reden an. Er wird wie umgewandelt. Er wirft seine Blödigkeit ab, ein neuer Geist, ein Pfingsten kommt über ihn, er spricht beherzt seine Meinung aus und zeigt oft mehr Verstand und politische Reife, als manches Mitglied der preußischen Herren-Kurie, als mancher deutsche Professor des Staatsrechts. So wahr ist es, daß nur die Frei- heit zur Freiheit erzieht.“ So die große rheinische Vettel nach den Märztagen von 1848. Heute redet sie in einer ganz anderen Sprache. Der freie Mensch von 1848, der selbst denkt und redet und oft mehr Wissen und politische Reife besaß, als manches Mitglied der preußischen Herrenkurie oder als mancher deutscher Professor des Staatsrechts (Nachbarin, euer Fläschchen! Der Verf.), ist heute am Ende des neun- zehnten Jahrhunderts politisch unwissend, roh, dünkelhaft, von der Phrase be- einflußt, er gehört mit einem Wort zum Pöbel. Die Partei der „Kölnischen Zeitung“, die nationalliberale Partei, konnte bis- her das allgemeine gleiche Wahlrecht noch nicht beseitigen, so suchte sie wenigstens seine Wirkungen einzudämmen. Herr v. Bennigsen brachte im Jahre 1887 im Kartellreichstag, in dem eine Majorität ihm sicher war, den Antrag ein, die Wahlperioden von drei Jahren auf fünf Jahre zu verlängern. Und so geschah es. Man hatte die Stirn, die Verlängerung der Wahlperioden mit der all- gemeinen Wahlmüdigkeit zu begründen. Wahlmüde ist aber nur die Bourgeoisie, weil sie die Wahlen als ein Volksgericht fürchtet. Die Wahlbetheiligung bei den Reichstagswahlen hat sich, wie nachgewiesen wurde, stetig gehoben, dagegen ist die Wahlbetheiligung bei dem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlsysteme, dem Dreiklassenwahlsystem, beständig gesunken. Heute muß in Deutschland das allgemeine Wahlrecht gegen die Angriffe seiner offenen und heimlichen Feinde vertheidigt werden, an eine Ausdehnung des- selben auf die Wahl der Landtage denkt in den bürgerlichen Parteien ernstlich  

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-30T15:09:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-30T15:09:45Z)

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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/51>, abgerufen am 23.11.2024.