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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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Regierung die Vorlage von Neuem ein, sie scheiterte aber an der Kammer, weil
man sich über die Wahlkreiseintheilung nicht verständigen konnte. Darauf zog die
Regierung die Vorlage zurück.

Jn den Jahren 1875/76, 1877, 1878 und 1879 folgten verschiedene Jnter-
pellationen beziehentlich Anträge für eine Wahlreform, die wiederum das Eine
ergaben, daß die Kammer sich auch jetzt nicht über die Wahlkreiseintheilung, d. h.
über die Vertheilung der Beute einigen konnte. Das Ende der Verhandlungen
bildete die Erklärung der Regierung: daß sie für die Einführung direkter
Wahlen nicht mehr zu haben sei
! Das Sozialistengesetz war mittlerweile in
Kraft getreten, das besagt Alles.

Der Wahlreformentwurf von 1881 änderte nur Nebensächliches und kam,
da er obendrein Verschlechterungen enthielt, als Gesetz zu Stande.

Der Eifer der Kammer für eine Wahlreform war aber mittlerweile der-
maßen abgekühlt, daß der Berichterstatter, der ultramontane Abgeordnete Daller,
sich begnügen konnte, zu erklären:

"Es wird die künftige oder eine spätere Kammer wahrscheinlich das
Jdeal eines Wahlgesetzes, eines trefflicheren, das den Anforderungen entspricht,
keineswegs aufgeben und ist sie auch jedenfalls durchaus nicht durch diese Gesetzes-
amendation verpflichtet, dieses Jdeal aufzugeben."

Verlegener kann man sich kaum ausdrücken. Das Ganze war nur Phrase.
Denn als volle zwölf Jahre später die sozialdemokratischen Abgeordneten, die
mittlerweile in den Landtag eingedrungen waren. Daller und seinen Freunden
Gelegenheit gaben, das "Jdeal" eines Wahlgesetzes durch ihre Zustimmung ver-
wirklichen zu helfen, stimmten Daller und Genossen dagegen.

Der Gesetzentwurf auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechts, den die Sozialdemokratie in der Landtagssession von 1893/94
im Münchener Landhause einbrachte, wurde von sämmtlichen Abgeordneten
des Zentrums mit Ausnahme der Stimmen Dr. Schädler's und zweier
seiner Freunde und gegen einen großen Theil der Stimmen der Libe-
ralen abgelehnt
.*)

Damit war auch im zweitgrößten deutschen Staat die Probe auf das
Exempel gemacht, wie die bürgerlichen Parteien zum allgemeinen und direkten
Wahlrecht stehen.

Sachsen.

Die politische Bewegung, die nach den Jahren der Reaktion von 1849 bis
1859 mit dem Ausbruch des österreich-italienischen Krieges wieder begann und
insbesondere die deutschen Einheitsbestrebungen zum Ausdruck brachte, fand auch
in Sachsen einen fruchtbaren Boden. Hier verschmolz sich dieselbe mit einer gleich-
zeitig auftretenden Bewegung gegen das "System Beust" und die von diesem
reaktivirten Ständekammern, deren Verfassung und Existenz mit dem weit vor-
geschrittenen industriellen und ökonomischen Zustand des Landes in schroffem
Widerspruch stand.

Das Jahr 1866 fegte das Ministerium Beust von der Bildfläche hinweg.
Das Jahr 1867 brachte die Gründung des Norddeutschen Bundes und zwei
Wahlen zum Norddeutschen Reichstag auf Grund des allgemeinen direkten Stimm-
rechts, und zwar für den konstituirenden Reichstag und die erste ordentliche Legis-
laturperiode desselben. Jetzt begriff man in Dresden, daß das Wahlrecht zur
zweiten Ständekammer ein Anachronismus sei, und so wurde dasselbe im Jahre
1868 geändert. Aber obgleich von allen deutschen Ländern keines weniger eine
künstliche Scheidung der Wahlkreise zwischen Stadt und Land rechtfertigte als
Sachsen, das bereits schon damals auch auf dem Lande eine großindustrielle Entwick-

*) Ausführlicheres über die Geschichte des bayerischen Landtagswahlrechts
siehe in der Broschüre: "Die bayerische Volksvertretung und das allgemeine, direkte
Landtagswahlrecht" von Adolf Müller. München 1894. Verlag der "Münchener Post"

Regierung die Vorlage von Neuem ein, sie scheiterte aber an der Kammer, weil
man sich über die Wahlkreiseintheilung nicht verständigen konnte. Darauf zog die
Regierung die Vorlage zurück.

Jn den Jahren 1875/76, 1877, 1878 und 1879 folgten verschiedene Jnter-
pellationen beziehentlich Anträge für eine Wahlreform, die wiederum das Eine
ergaben, daß die Kammer sich auch jetzt nicht über die Wahlkreiseintheilung, d. h.
über die Vertheilung der Beute einigen konnte. Das Ende der Verhandlungen
bildete die Erklärung der Regierung: daß sie für die Einführung direkter
Wahlen nicht mehr zu haben sei
! Das Sozialistengesetz war mittlerweile in
Kraft getreten, das besagt Alles.

Der Wahlreformentwurf von 1881 änderte nur Nebensächliches und kam,
da er obendrein Verschlechterungen enthielt, als Gesetz zu Stande.

Der Eifer der Kammer für eine Wahlreform war aber mittlerweile der-
maßen abgekühlt, daß der Berichterstatter, der ultramontane Abgeordnete Daller,
sich begnügen konnte, zu erklären:

„Es wird die künftige oder eine spätere Kammer wahrscheinlich das
Jdeal eines Wahlgesetzes, eines trefflicheren, das den Anforderungen entspricht,
keineswegs aufgeben und ist sie auch jedenfalls durchaus nicht durch diese Gesetzes-
amendation verpflichtet, dieses Jdeal aufzugeben.“

Verlegener kann man sich kaum ausdrücken. Das Ganze war nur Phrase.
Denn als volle zwölf Jahre später die sozialdemokratischen Abgeordneten, die
mittlerweile in den Landtag eingedrungen waren. Daller und seinen Freunden
Gelegenheit gaben, das „Jdeal“ eines Wahlgesetzes durch ihre Zustimmung ver-
wirklichen zu helfen, stimmten Daller und Genossen dagegen.

Der Gesetzentwurf auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechts, den die Sozialdemokratie in der Landtagssession von 1893/94
im Münchener Landhause einbrachte, wurde von sämmtlichen Abgeordneten
des Zentrums mit Ausnahme der Stimmen Dr. Schädler's und zweier
seiner Freunde und gegen einen großen Theil der Stimmen der Libe-
ralen abgelehnt
.*)

Damit war auch im zweitgrößten deutschen Staat die Probe auf das
Exempel gemacht, wie die bürgerlichen Parteien zum allgemeinen und direkten
Wahlrecht stehen.

Sachsen.

Die politische Bewegung, die nach den Jahren der Reaktion von 1849 bis
1859 mit dem Ausbruch des österreich-italienischen Krieges wieder begann und
insbesondere die deutschen Einheitsbestrebungen zum Ausdruck brachte, fand auch
in Sachsen einen fruchtbaren Boden. Hier verschmolz sich dieselbe mit einer gleich-
zeitig auftretenden Bewegung gegen das „System Beust“ und die von diesem
reaktivirten Ständekammern, deren Verfassung und Existenz mit dem weit vor-
geschrittenen industriellen und ökonomischen Zustand des Landes in schroffem
Widerspruch stand.

Das Jahr 1866 fegte das Ministerium Beust von der Bildfläche hinweg.
Das Jahr 1867 brachte die Gründung des Norddeutschen Bundes und zwei
Wahlen zum Norddeutschen Reichstag auf Grund des allgemeinen direkten Stimm-
rechts, und zwar für den konstituirenden Reichstag und die erste ordentliche Legis-
laturperiode desselben. Jetzt begriff man in Dresden, daß das Wahlrecht zur
zweiten Ständekammer ein Anachronismus sei, und so wurde dasselbe im Jahre
1868 geändert. Aber obgleich von allen deutschen Ländern keines weniger eine
künstliche Scheidung der Wahlkreise zwischen Stadt und Land rechtfertigte als
Sachsen, das bereits schon damals auch auf dem Lande eine großindustrielle Entwick-

*) Ausführlicheres über die Geschichte des bayerischen Landtagswahlrechts
siehe in der Broschüre: „Die bayerische Volksvertretung und das allgemeine, direkte
Landtagswahlrecht“ von Adolf Müller. München 1894. Verlag der „Münchener Post“
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[32/0036] Regierung die Vorlage von Neuem ein, sie scheiterte aber an der Kammer, weil man sich über die Wahlkreiseintheilung nicht verständigen konnte. Darauf zog die Regierung die Vorlage zurück. Jn den Jahren 1875/76, 1877, 1878 und 1879 folgten verschiedene Jnter- pellationen beziehentlich Anträge für eine Wahlreform, die wiederum das Eine ergaben, daß die Kammer sich auch jetzt nicht über die Wahlkreiseintheilung, d. h. über die Vertheilung der Beute einigen konnte. Das Ende der Verhandlungen bildete die Erklärung der Regierung: daß sie für die Einführung direkter Wahlen nicht mehr zu haben sei! Das Sozialistengesetz war mittlerweile in Kraft getreten, das besagt Alles. Der Wahlreformentwurf von 1881 änderte nur Nebensächliches und kam, da er obendrein Verschlechterungen enthielt, als Gesetz zu Stande. Der Eifer der Kammer für eine Wahlreform war aber mittlerweile der- maßen abgekühlt, daß der Berichterstatter, der ultramontane Abgeordnete Daller, sich begnügen konnte, zu erklären: „Es wird die künftige oder eine spätere Kammer wahrscheinlich das Jdeal eines Wahlgesetzes, eines trefflicheren, das den Anforderungen entspricht, keineswegs aufgeben und ist sie auch jedenfalls durchaus nicht durch diese Gesetzes- amendation verpflichtet, dieses Jdeal aufzugeben.“ Verlegener kann man sich kaum ausdrücken. Das Ganze war nur Phrase. Denn als volle zwölf Jahre später die sozialdemokratischen Abgeordneten, die mittlerweile in den Landtag eingedrungen waren. Daller und seinen Freunden Gelegenheit gaben, das „Jdeal“ eines Wahlgesetzes durch ihre Zustimmung ver- wirklichen zu helfen, stimmten Daller und Genossen dagegen. Der Gesetzentwurf auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, den die Sozialdemokratie in der Landtagssession von 1893/94 im Münchener Landhause einbrachte, wurde von sämmtlichen Abgeordneten des Zentrums mit Ausnahme der Stimmen Dr. Schädler's und zweier seiner Freunde und gegen einen großen Theil der Stimmen der Libe- ralen abgelehnt. *) Damit war auch im zweitgrößten deutschen Staat die Probe auf das Exempel gemacht, wie die bürgerlichen Parteien zum allgemeinen und direkten Wahlrecht stehen. Sachsen. Die politische Bewegung, die nach den Jahren der Reaktion von 1849 bis 1859 mit dem Ausbruch des österreich-italienischen Krieges wieder begann und insbesondere die deutschen Einheitsbestrebungen zum Ausdruck brachte, fand auch in Sachsen einen fruchtbaren Boden. Hier verschmolz sich dieselbe mit einer gleich- zeitig auftretenden Bewegung gegen das „System Beust“ und die von diesem reaktivirten Ständekammern, deren Verfassung und Existenz mit dem weit vor- geschrittenen industriellen und ökonomischen Zustand des Landes in schroffem Widerspruch stand. Das Jahr 1866 fegte das Ministerium Beust von der Bildfläche hinweg. Das Jahr 1867 brachte die Gründung des Norddeutschen Bundes und zwei Wahlen zum Norddeutschen Reichstag auf Grund des allgemeinen direkten Stimm- rechts, und zwar für den konstituirenden Reichstag und die erste ordentliche Legis- laturperiode desselben. Jetzt begriff man in Dresden, daß das Wahlrecht zur zweiten Ständekammer ein Anachronismus sei, und so wurde dasselbe im Jahre 1868 geändert. Aber obgleich von allen deutschen Ländern keines weniger eine künstliche Scheidung der Wahlkreise zwischen Stadt und Land rechtfertigte als Sachsen, das bereits schon damals auch auf dem Lande eine großindustrielle Entwick- *) Ausführlicheres über die Geschichte des bayerischen Landtagswahlrechts siehe in der Broschüre: „Die bayerische Volksvertretung und das allgemeine, direkte Landtagswahlrecht“ von Adolf Müller. München 1894. Verlag der „Münchener Post“

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-30T15:09:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-30T15:09:45Z)

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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/36>, abgerufen am 24.11.2024.