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Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835.

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keit der Tilgung zunimmt. Der Staat seinerseits und der Gläu-
biger anderseits glaubte aber auch, was Verzinsung und Tilgung
anbelangt, noch durch den Unterschied zwischen der wirklichen und
wahrscheinlichen Lebensdauer der Gläubiger Gewinn zu machen,
und so entstanden 3) die Leibrenten (franz. Rentes viageres,
engl. Life Annuties), nämlich Annuitäten, welche so berechnet
sind, daß durch Bezahlung der bestimmten Rente die Schuld nach
Ablauf der wahrscheinlichen Lebensdauer des Gläubigers sammt
Zinsen getilgt ist. Lebt nun der Letztere wirklich länger, so muß
ihm der Staat mit Schaden die Rente bis zum Tode fortbezahlen
und jener gewinnt; stirbt er aber früher, so erlischt auch die
Rentenzahlung und der Staat gewinnt. Jedoch so ganz vereinzelt
war es schwerer, Gläubiger auf diese Anleihensart zu finden, als
wenn sich Gesellschaften dazu vereinigten, und zudem mußte der
Ertrag solcher Anleihen auch größer sein. Daher verfiel man auf
4) die Tontinen, d. h. Leibrenten für eine ganze Gläubigergesell-
schaft, die aus verschiedenen Altersklassen bestehen kann, mit der
Einrichtung, daß die Gesellschaft als moralische Person den ganzen
Rentenbetrag für die Schuld bezieht, folglich, wenn ein Mitglied
nach dem andern stirbt, immer die personell ledig gewordene Rente
wieder dem Reste der Gesellschaft zufällt, bis sie endlich ganz aus-
gestorben ist2). Bei diesen drei letztgenannten Anleihensarten aber
gibt der Staat ganz aus der Hand, den Zinsfuß, wenn er indessen
sinken sollte oder wenn jener in den Stand käme, Anleihen zu ge-
ringeren Zinsen aufnehmen zu können, herabzusetzen. Bei den
Annuitäten verrechnen sich oft die Gläubiger und die kleinen Be-
träge der Renteinnahme sind ihnen zum Behufe der Capitalansamm-
lung nicht angenehm. Bei Leibrenten und Tontinen verliert in der
Regel der Staat, weil die Lebensdauer der Rentner wirklich größer
zu sein pflegt, als die Wahrscheinlichkeit lehrt. Wegen dieser und
der früher angegebenen Unbequemlichkeiten verfiel man auf neue
Einrichtungen der Staatsanleihen, und es gingen endlich noch
folgende drei Arten hervor, nämlich 5) die Lotterieanleihen,
d. h. solche, wobei der Staat die Zinszinsen oder einen Theil der
Zinsen oder selbst einen Theil des Capitals zurückhält, um daraus
einen Fonds zu bilden, welcher in verschiedene Gewinnste abgetheilt
wird. Entweder bezahlt derselbe die Zinsen jährlich aus oder
schlägt sie zum Capital einer jeden Obligation (Loos genannt).
Im ersten Falle wird blos das Capital sammt den Gewinnsten, im
zweiten aber das Capital und der Zins für die sämmtlichen rück-
ständigen Jahre sammt den Gewinnsten ausbezahlt, wie es die
vorher geschehene Verloosung jedesmal anzeigt, so daß der ge-

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keit der Tilgung zunimmt. Der Staat ſeinerſeits und der Gläu-
biger anderſeits glaubte aber auch, was Verzinſung und Tilgung
anbelangt, noch durch den Unterſchied zwiſchen der wirklichen und
wahrſcheinlichen Lebensdauer der Gläubiger Gewinn zu machen,
und ſo entſtanden 3) die Leibrenten (franz. Rentes viagères,
engl. Life Annuties), nämlich Annuitäten, welche ſo berechnet
ſind, daß durch Bezahlung der beſtimmten Rente die Schuld nach
Ablauf der wahrſcheinlichen Lebensdauer des Gläubigers ſammt
Zinſen getilgt iſt. Lebt nun der Letztere wirklich länger, ſo muß
ihm der Staat mit Schaden die Rente bis zum Tode fortbezahlen
und jener gewinnt; ſtirbt er aber früher, ſo erliſcht auch die
Rentenzahlung und der Staat gewinnt. Jedoch ſo ganz vereinzelt
war es ſchwerer, Gläubiger auf dieſe Anleihensart zu finden, als
wenn ſich Geſellſchaften dazu vereinigten, und zudem mußte der
Ertrag ſolcher Anleihen auch größer ſein. Daher verfiel man auf
4) die Tontinen, d. h. Leibrenten für eine ganze Gläubigergeſell-
ſchaft, die aus verſchiedenen Altersklaſſen beſtehen kann, mit der
Einrichtung, daß die Geſellſchaft als moraliſche Perſon den ganzen
Rentenbetrag für die Schuld bezieht, folglich, wenn ein Mitglied
nach dem andern ſtirbt, immer die perſonell ledig gewordene Rente
wieder dem Reſte der Geſellſchaft zufällt, bis ſie endlich ganz aus-
geſtorben iſt2). Bei dieſen drei letztgenannten Anleihensarten aber
gibt der Staat ganz aus der Hand, den Zinsfuß, wenn er indeſſen
ſinken ſollte oder wenn jener in den Stand käme, Anleihen zu ge-
ringeren Zinſen aufnehmen zu können, herabzuſetzen. Bei den
Annuitäten verrechnen ſich oft die Gläubiger und die kleinen Be-
träge der Renteinnahme ſind ihnen zum Behufe der Capitalanſamm-
lung nicht angenehm. Bei Leibrenten und Tontinen verliert in der
Regel der Staat, weil die Lebensdauer der Rentner wirklich größer
zu ſein pflegt, als die Wahrſcheinlichkeit lehrt. Wegen dieſer und
der früher angegebenen Unbequemlichkeiten verfiel man auf neue
Einrichtungen der Staatsanleihen, und es gingen endlich noch
folgende drei Arten hervor, nämlich 5) die Lotterieanleihen,
d. h. ſolche, wobei der Staat die Zinszinſen oder einen Theil der
Zinſen oder ſelbſt einen Theil des Capitals zurückhält, um daraus
einen Fonds zu bilden, welcher in verſchiedene Gewinnſte abgetheilt
wird. Entweder bezahlt derſelbe die Zinſen jährlich aus oder
ſchlägt ſie zum Capital einer jeden Obligation (Loos genannt).
Im erſten Falle wird blos das Capital ſammt den Gewinnſten, im
zweiten aber das Capital und der Zins für die ſämmtlichen rück-
ſtändigen Jahre ſammt den Gewinnſten ausbezahlt, wie es die
vorher geſchehene Verlooſung jedesmal anzeigt, ſo daß der ge-

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[755/0777] keit der Tilgung zunimmt. Der Staat ſeinerſeits und der Gläu- biger anderſeits glaubte aber auch, was Verzinſung und Tilgung anbelangt, noch durch den Unterſchied zwiſchen der wirklichen und wahrſcheinlichen Lebensdauer der Gläubiger Gewinn zu machen, und ſo entſtanden 3) die Leibrenten (franz. Rentes viagères, engl. Life Annuties), nämlich Annuitäten, welche ſo berechnet ſind, daß durch Bezahlung der beſtimmten Rente die Schuld nach Ablauf der wahrſcheinlichen Lebensdauer des Gläubigers ſammt Zinſen getilgt iſt. Lebt nun der Letztere wirklich länger, ſo muß ihm der Staat mit Schaden die Rente bis zum Tode fortbezahlen und jener gewinnt; ſtirbt er aber früher, ſo erliſcht auch die Rentenzahlung und der Staat gewinnt. Jedoch ſo ganz vereinzelt war es ſchwerer, Gläubiger auf dieſe Anleihensart zu finden, als wenn ſich Geſellſchaften dazu vereinigten, und zudem mußte der Ertrag ſolcher Anleihen auch größer ſein. Daher verfiel man auf 4) die Tontinen, d. h. Leibrenten für eine ganze Gläubigergeſell- ſchaft, die aus verſchiedenen Altersklaſſen beſtehen kann, mit der Einrichtung, daß die Geſellſchaft als moraliſche Perſon den ganzen Rentenbetrag für die Schuld bezieht, folglich, wenn ein Mitglied nach dem andern ſtirbt, immer die perſonell ledig gewordene Rente wieder dem Reſte der Geſellſchaft zufällt, bis ſie endlich ganz aus- geſtorben iſt2). Bei dieſen drei letztgenannten Anleihensarten aber gibt der Staat ganz aus der Hand, den Zinsfuß, wenn er indeſſen ſinken ſollte oder wenn jener in den Stand käme, Anleihen zu ge- ringeren Zinſen aufnehmen zu können, herabzuſetzen. Bei den Annuitäten verrechnen ſich oft die Gläubiger und die kleinen Be- träge der Renteinnahme ſind ihnen zum Behufe der Capitalanſamm- lung nicht angenehm. Bei Leibrenten und Tontinen verliert in der Regel der Staat, weil die Lebensdauer der Rentner wirklich größer zu ſein pflegt, als die Wahrſcheinlichkeit lehrt. Wegen dieſer und der früher angegebenen Unbequemlichkeiten verfiel man auf neue Einrichtungen der Staatsanleihen, und es gingen endlich noch folgende drei Arten hervor, nämlich 5) die Lotterieanleihen, d. h. ſolche, wobei der Staat die Zinszinſen oder einen Theil der Zinſen oder ſelbſt einen Theil des Capitals zurückhält, um daraus einen Fonds zu bilden, welcher in verſchiedene Gewinnſte abgetheilt wird. Entweder bezahlt derſelbe die Zinſen jährlich aus oder ſchlägt ſie zum Capital einer jeden Obligation (Loos genannt). Im erſten Falle wird blos das Capital ſammt den Gewinnſten, im zweiten aber das Capital und der Zins für die ſämmtlichen rück- ſtändigen Jahre ſammt den Gewinnſten ausbezahlt, wie es die vorher geſchehene Verlooſung jedesmal anzeigt, ſo daß der ge- 48 *

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Zitationshilfe: Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Heidelberg u. a., 1835, S. 755. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumstark_encyclopaedie_1835/777>, abgerufen am 27.11.2024.