pba_665.001 jenigen Frage hin, die zu allen Zeiten den Ausgangspunkt aller pba_665.002 theoretischen Untersuchungen über das Wesen der Tragödie pba_665.003 gebildet hat, auf die Frage, wie die Nachahmung einer traurigenpba_665.004 Handlung Vergnügen bereiten könne. Daß die Tragödie das erste pba_665.005 ist und daß sie das zweite dennoch erreicht, wird durch die thatsächliche pba_665.006 Erfahrung immer wieder aufs neue bestätigt; aber alle Versuche, dieses pba_665.007 unbestreitbare Faktum zu erklären, sind ausnahmslos bis in die neueste pba_665.008 Zeit hin gescheitert: einzig und allein aus den Konsequenzen der aristotelischen pba_665.009 Theorie sind die Mittel für eine solche Erklärung zu gewinnen. pba_665.010 Und zwar mit der größesten Einfachheit. Reinheit d. i. vollkommenepba_665.011 Richtigkeit der Empfindung ist überhaupt im Leben eine seltene Erscheinung, pba_665.012 nirgends aber ist sie seltener und nirgends schwerer zu erreichen pba_665.013 als gegenüber den schweren Schicksalen, von denen man selbst pba_665.014 bedroht wird oder von denen man andere bedroht oder betroffen sieht. pba_665.015 Daher sind die Empfindungen, die durch die Nachahmung derartiger pba_665.016 Schicksale erregt werden, zunächst nicht die reinen, richtigen, ja es pba_665.017 gibt kein Mittel, durch welches die Kunst direkt und unmittelbar pba_665.018 die reinen Schicksalsempfindungen zu erregen vermöchte.pba_665.019 Die Tragödie, die dieses Ziel verfolgt, kann nicht umhin zunächst das pba_665.020 Objekt herzustellen, an welchem nun den Läuterungsprozeß zu pba_665.021 vollziehen, die Katharsis zu vollenden ihr eigentliches Geschäft ist. Die pba_665.022 Erregung der traurigen, schmerzlichen, beunruhigenden Furcht- pba_665.023 und Mitleidaffekte ist die unerläßliche Vorbedingung für die pba_665.024 Erzeugung des hohen künstlerischen Genusses, des "Vergnügens pba_665.025 an tragischen Gegenständen", der Hedone, welche die gewissen Begleiter pba_665.026 der "Symmetrie" der Furcht und des Mitleids, ihres durch die pba_665.027 Katharsis erzielten rechten Gleichmaßes sind. Ohne daß diese pba_665.028 Trauer, dieser Schmerz -- lupe -- vorangegangen, kann von pba_665.029 der tragischen Kunst und von dem Genuß derselben keine Rede sein: pba_665.030 sehr treffend heißt darum der Schmerz gleichsam ihr Erzeuger. Der pba_665.031 Beweis, daß Aristoteles die "Trauer die Mutter des Trauerspiels" pba_665.032 genannt habe, ist natürlich nicht zu erbringen; daß aber die pba_665.033 Metapher dem Kern seiner Lehre entspricht, und daß sie daher mit pba_665.034 großer Wahrscheinlichkeit in dem Zusammenhange, in welchem wir sie pba_665.035 bei dem Excerptor finden, für einen Teil der verlorenen Erläuterung des pba_665.036 Aristoteles über die Katharsis gehalten werden kann, dürfte keinem pba_665.037 Zweifel unterworfen sein.
pba_665.038 Es bedarf aber keines Hinweises darauf, von welcher Wichtigkeit pba_665.039 der Nachweis der Echtheit dieser Excerpte ist, nicht nur um ihres Jnhaltes pba_665.040 willen, sondern namentlich wegen ihres schwerwiegenden
pba_665.001 jenigen Frage hin, die zu allen Zeiten den Ausgangspunkt aller pba_665.002 theoretischen Untersuchungen über das Wesen der Tragödie pba_665.003 gebildet hat, auf die Frage, wie die Nachahmung einer traurigenpba_665.004 Handlung Vergnügen bereiten könne. Daß die Tragödie das erste pba_665.005 ist und daß sie das zweite dennoch erreicht, wird durch die thatsächliche pba_665.006 Erfahrung immer wieder aufs neue bestätigt; aber alle Versuche, dieses pba_665.007 unbestreitbare Faktum zu erklären, sind ausnahmslos bis in die neueste pba_665.008 Zeit hin gescheitert: einzig und allein aus den Konsequenzen der aristotelischen pba_665.009 Theorie sind die Mittel für eine solche Erklärung zu gewinnen. pba_665.010 Und zwar mit der größesten Einfachheit. Reinheit d. i. vollkommenepba_665.011 Richtigkeit der Empfindung ist überhaupt im Leben eine seltene Erscheinung, pba_665.012 nirgends aber ist sie seltener und nirgends schwerer zu erreichen pba_665.013 als gegenüber den schweren Schicksalen, von denen man selbst pba_665.014 bedroht wird oder von denen man andere bedroht oder betroffen sieht. pba_665.015 Daher sind die Empfindungen, die durch die Nachahmung derartiger pba_665.016 Schicksale erregt werden, zunächst nicht die reinen, richtigen, ja es pba_665.017 gibt kein Mittel, durch welches die Kunst direkt und unmittelbar pba_665.018 die reinen Schicksalsempfindungen zu erregen vermöchte.pba_665.019 Die Tragödie, die dieses Ziel verfolgt, kann nicht umhin zunächst das pba_665.020 Objekt herzustellen, an welchem nun den Läuterungsprozeß zu pba_665.021 vollziehen, die Katharsis zu vollenden ihr eigentliches Geschäft ist. Die pba_665.022 Erregung der traurigen, schmerzlichen, beunruhigenden Furcht- pba_665.023 und Mitleidaffekte ist die unerläßliche Vorbedingung für die pba_665.024 Erzeugung des hohen künstlerischen Genusses, des „Vergnügens pba_665.025 an tragischen Gegenständen“, der Hedone, welche die gewissen Begleiter pba_665.026 der „Symmetrie“ der Furcht und des Mitleids, ihres durch die pba_665.027 Katharsis erzielten rechten Gleichmaßes sind. Ohne daß diese pba_665.028 Trauer, dieser Schmerz — λύπη — vorangegangen, kann von pba_665.029 der tragischen Kunst und von dem Genuß derselben keine Rede sein: pba_665.030 sehr treffend heißt darum der Schmerz gleichsam ihr Erzeuger. Der pba_665.031 Beweis, daß Aristoteles die „Trauer die Mutter des Trauerspiels“ pba_665.032 genannt habe, ist natürlich nicht zu erbringen; daß aber die pba_665.033 Metapher dem Kern seiner Lehre entspricht, und daß sie daher mit pba_665.034 großer Wahrscheinlichkeit in dem Zusammenhange, in welchem wir sie pba_665.035 bei dem Excerptor finden, für einen Teil der verlorenen Erläuterung des pba_665.036 Aristoteles über die Katharsis gehalten werden kann, dürfte keinem pba_665.037 Zweifel unterworfen sein.
pba_665.038 Es bedarf aber keines Hinweises darauf, von welcher Wichtigkeit pba_665.039 der Nachweis der Echtheit dieser Excerpte ist, nicht nur um ihres Jnhaltes pba_665.040 willen, sondern namentlich wegen ihres schwerwiegenden
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[665/0683]
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pba_665.038
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/683>, abgerufen am 22.11.2024.
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