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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Entschiedenheit ablehnte, "es als edler im Gemüt erkennend, die Pfeil' pba_653.002
und Schleudern des wütenden Geschickes zu erdulden". Shakespeares pba_653.003
Genie fand ganz unabhängig von dem Handlungsverlauf, der ihm in pba_653.004
seinen Quellen vorlag, diejenige Behandlungsweise, die allein diesem pba_653.005
Stoffe die tragische Vertiefung zu verleihen vermochte.

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Wie Sophokles basierte er seine Tragödie der Hauptsache nach pba_653.007
auf eine rein ethische Anlage; aber während jener dieselbe nur durch pba_653.008
höchst geschickte Benutzung des Erkennungsmomentes erweiterte, im pba_653.009
übrigen aber ihr den einfachen Verlauf ließ, errichtete Shakespeare pba_653.010
auf dieser ethischen Grundlage den kunstvollen Bau einer doppelten pba_653.011
Peripetie
von der gewaltigsten tragischen Wirkung, die sowohl den pba_653.012
König mit seinem ganzen Anhange ins Verderben stürzt als auch dem pba_653.013
Helden des Stücks den Untergang bereitet. Die ethische Veranlagung pba_653.014
des Stoffes bildet so gleichsam nur das Feld, auf welchem wir das pba_653.015
Schicksal selbst in erschütternde Aktion treten sehen.

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Den vollen Gegensatz zu dem Ethos der Sophokleischen Elektra pba_653.017
hat Goethe in dem herrlichen Bilde seiner "Jphigenie" erschaffen, pba_653.018
und beide Dichter thaten wohl daran, ein weibliches Gemüt, mit seiner pba_653.019
Fähigkeit in ausschließender Hingabe ganz von einem Gefühl sich leiten pba_653.020
zu lassen, zum Träger der Handlung zu erwählen. Fast wie in der pba_653.021
Kriemhild des Nibelungenliedes hat in der Elektra des Sophokles der pba_653.022
Rachegedanke jede entgegenstehende Empfindung aufgezehrt; in Goethes pba_653.023
Jphigenie erweist das Ethos lauterer Wahrhaftigkeit, klarster Seelenreinheit pba_653.024
und reichster Herzensgüte seine "sühnende" Kraft gegenüber pba_653.025
"allen menschlichen Gebrechen". Einen ganz anderen Gegensatz zu dem pba_653.026
Ethos leidenschaftlicher That ersann Shakespeare für seinen Zweck, eine pba_653.027
Charakterbeschaffenheit, die in ihren vielfältigen und feinen Mischungsverhältnissen pba_653.028
schwer zu analysieren ist. Dieser Charakter ist eine freie pba_653.029
Schöpfung seines Genies; seine Quelle bot ihm nichts als die Nachricht pba_653.030
von Hamlets fingiertem Wahnsinn, der dort aber als klug gewähltes pba_653.031
Mittel zu raschester, energischer That sich darstellt.

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Das die Seele Hamlets beherrschende Charakter-Ethos steht der pba_653.033
von ihm geforderten That mit stärkster Hemmung entgegen: keineswegs pba_653.034
aber ist es die siegende Kraft eines zu absoluter Reinheit geläuterten pba_653.035
sittlichen Bewußtseins, die ihm die Rolle des Rächers pba_653.036
zu übernehmen verwehrt -- wie etwa eine rückkehrende Jphigenie an pba_653.037
Elektras Stelle zu treten unfähig gewesen wäre --, sondern eine zu pba_653.038
höchstem Reichtum des Gedankens und des geistigen Empfindens entwickelte pba_653.039
intellektuelle Kultur ist es, deren Schwergewicht den zur Vollstreckung pba_653.040
erhobenen Arm herniederzieht, ohne daß sie es vermöchte, den

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Entschiedenheit ablehnte, „es als edler im Gemüt erkennend, die Pfeil' pba_653.002
und Schleudern des wütenden Geschickes zu erdulden“. Shakespeares pba_653.003
Genie fand ganz unabhängig von dem Handlungsverlauf, der ihm in pba_653.004
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Stoffe die tragische Vertiefung zu verleihen vermochte.

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Wie Sophokles basierte er seine Tragödie der Hauptsache nach pba_653.007
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Peripetie
von der gewaltigsten tragischen Wirkung, die sowohl den pba_653.012
König mit seinem ganzen Anhange ins Verderben stürzt als auch dem pba_653.013
Helden des Stücks den Untergang bereitet. Die ethische Veranlagung pba_653.014
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Schicksal selbst in erschütternde Aktion treten sehen.

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Den vollen Gegensatz zu dem Ethos der Sophokleischen Elektra pba_653.017
hat Goethe in dem herrlichen Bilde seiner „Jphigenie“ erschaffen, pba_653.018
und beide Dichter thaten wohl daran, ein weibliches Gemüt, mit seiner pba_653.019
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Kriemhild des Nibelungenliedes hat in der Elektra des Sophokles der pba_653.022
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Mittel zu raschester, energischer That sich darstellt.

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Das die Seele Hamlets beherrschende Charakter-Ethos steht der pba_653.033
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/671>, abgerufen am 22.11.2024.