pba_651.001 Väter." Noch folgt ein allseitiger zärtlicher Abschied, namentlich die pba_651.002 höchst rührend in die Breite gezogene Trennungsscene zwischen Orestes pba_651.003 und Elektra. Dann schließt das Stück, indem zuletzt noch die Dioskuren pba_651.004 ihre Legitimation zu dem etwas tumultuarischen Verfahren vorweisen, pba_651.005 mit dem sie den Streit Apollons und der Erinnyen präjudiziert pba_651.006 haben: "Wer Heiligkeit nur und Gerechtigkeit stets im Leben geliebt, pba_651.007 dem stehen wir bei, aus quälender Drangsal retten wir ihn. Drum pba_651.008 möge vor Unrecht jeder sich scheun, er geselle sich nie Meineidigen bei: pba_651.009 so ruf ich den Menschen, ein Gott, zu!"
pba_651.010 Und der Chor, der das ganze Stück nur so wenig zur Sache zu pba_651.011 bemerken gehabt hat, was kann er angesichts dieser glatten und im pba_651.012 ganzen doch immerhin vergnüglichen Lösung einer recht bedenklich verwickelt pba_651.013 scheinenden Angelegenheit Verständigeres thun, als, nachdem pba_651.014 Orestes, der eben noch seinem Freunde Pylades und seiner Elektra Glück pba_651.015 gewünscht hat, unter vorläufiger Verfolgung der Erinnyen entflohen ist, pba_651.016 den Zurückbleibenden zuzurufen:
pba_651.017
Lebt, freut euch! Wer sich zu freuen vermag,pba_651.018 Und des Unglücks Macht nie trauernd empfand,pba_651.019 Er lebt ein seliges Leben.
pba_651.020 Es ist zuzugeben, daß die "Elektra" vielleicht das schlechteste der pba_651.021 uns erhaltenen Stücke des Euripides ist; aber die Fehler desselben, pba_651.022 wenn auch nicht in so auffälligem, bis an die Grenze der Parodie pba_651.023 gehenden Grade, wiederholen sich auch in seinen übrigen Tragödien. pba_651.024 Faßte man das Wesen derselben in ein Wort zusammen, so müßte das pba_651.025 lauten: Die eigentliche Kraft der tiefen, tragischen Wirkung pba_651.026 ist ihm unbekannt; statt ihrer wendet er seine Kunst dem pba_651.027 einzelnen Rührungsaffekt zu. So mag er sich den billigen Ruhm pba_651.028 des "Tragikotatos", des "allertragischten" Dichters erworben pba_651.029 haben, nicht indem er es verstand, die Aufgabe der Tragödie, die pba_651.030 Katharsis der tragischen Affekte zu bewirken, am würdigsten pba_651.031 zu lösen, sondern indem er auf Kosten des Ernstes und der Wahrheit pba_651.032 des großen Schicksalzusammenhanges seine Zuschauer an der reich besetzten pba_651.033 Tafel des herzzerreißenden Jammers über fremde Leiden sich satt pba_651.034 schwelgen ließ.
pba_651.035 Zum Beschluß noch ein Wort über die obengenannte "Hamlet"- pba_651.036 Tragödie Shakespeares, nicht um auf dieses an Rätseln reiche Stück pba_651.037 näher einzugehen, sondern nur um nachzuweisen, inwiefern es mit den pba_651.038 die Orestie behandelnden Tragödien in Vergleich zu stellen wäre, und pba_651.039 welches Resultat ein solcher Vergleich ergibt.
pba_651.001 Väter.“ Noch folgt ein allseitiger zärtlicher Abschied, namentlich die pba_651.002 höchst rührend in die Breite gezogene Trennungsscene zwischen Orestes pba_651.003 und Elektra. Dann schließt das Stück, indem zuletzt noch die Dioskuren pba_651.004 ihre Legitimation zu dem etwas tumultuarischen Verfahren vorweisen, pba_651.005 mit dem sie den Streit Apollons und der Erinnyen präjudiziert pba_651.006 haben: „Wer Heiligkeit nur und Gerechtigkeit stets im Leben geliebt, pba_651.007 dem stehen wir bei, aus quälender Drangsal retten wir ihn. Drum pba_651.008 möge vor Unrecht jeder sich scheun, er geselle sich nie Meineidigen bei: pba_651.009 so ruf ich den Menschen, ein Gott, zu!“
pba_651.010 Und der Chor, der das ganze Stück nur so wenig zur Sache zu pba_651.011 bemerken gehabt hat, was kann er angesichts dieser glatten und im pba_651.012 ganzen doch immerhin vergnüglichen Lösung einer recht bedenklich verwickelt pba_651.013 scheinenden Angelegenheit Verständigeres thun, als, nachdem pba_651.014 Orestes, der eben noch seinem Freunde Pylades und seiner Elektra Glück pba_651.015 gewünscht hat, unter vorläufiger Verfolgung der Erinnyen entflohen ist, pba_651.016 den Zurückbleibenden zuzurufen:
pba_651.017
Lebt, freut euch! Wer sich zu freuen vermag,pba_651.018 Und des Unglücks Macht nie trauernd empfand,pba_651.019 Er lebt ein seliges Leben.
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pba_651.035 Zum Beschluß noch ein Wort über die obengenannte „Hamlet“- pba_651.036 Tragödie Shakespeares, nicht um auf dieses an Rätseln reiche Stück pba_651.037 näher einzugehen, sondern nur um nachzuweisen, inwiefern es mit den pba_651.038 die Orestie behandelnden Tragödien in Vergleich zu stellen wäre, und pba_651.039 welches Resultat ein solcher Vergleich ergibt.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/669>, abgerufen am 22.11.2024.
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