Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_631.001 1 pba_631.034 Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen pba_631.035 Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus, pba_631.036 der sie mit Bezug auf die Horen matrokasignetai nennt, kann sowohl das eine pba_631.037 als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl "Mutterschwestern" pba_631.038 bedeuten als "Schwestern von der Mutter her". (Vgl. G. Hermann: pba_631.039 Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.) 2 pba_631.040
Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben pba_631.001 1 pba_631.034 Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen pba_631.035 Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus, pba_631.036 der sie mit Bezug auf die Horen ματροκασιγνῆται nennt, kann sowohl das eine pba_631.037 als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl „Mutterschwestern“ pba_631.038 bedeuten als „Schwestern von der Mutter her“. (Vgl. G. Hermann: pba_631.039 Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.) 2 pba_631.040
Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0649" n="631"/><lb n="pba_631.001"/> Zorn weicht und sie sich gewinnen lassen. So werden nun die Furchtbaren <lb n="pba_631.002"/> zu den „<hi rendition="#g">Wohlwollenden</hi>“; der „<hi rendition="#g">Eumeniden</hi>“ hohe unverbrüchliche <lb n="pba_631.003"/> Verehrung soll hinfort dem Lande und dem Volke eine Quelle <lb n="pba_631.004"/> reichen, herrlichen Segens sein. Gnadenmild und holdgesinnt rufen die <lb n="pba_631.005"/> so Verwandelten nun die Horen und ihre Mutterschwestern, die hohen <lb n="pba_631.006"/> <hi rendition="#g">Moiren,</hi> um ihren vollen Schutz für das Land an, wo sie selbst <lb n="pba_631.007"/> Wohnsitz gefunden haben, wo fürder kein Haus ohne sie je gedeihen <lb n="pba_631.008"/> soll, wo erhöht wird, wer sie verehrt. Die tiefsinnige Chorstrophe ist <lb n="pba_631.009"/> nach ihrem vollen Gehalt unübersetzbar, denn sie umfaßt symbolisch den <lb n="pba_631.010"/> großen Gedanken des ganzen Dramas. Es ist eine Bestätigung und <lb n="pba_631.011"/> Ausführung des früheren Spruchs: <foreign xml:lang="grc">δυσσεβίας μὲν ὕβρις τέκος ὡς</foreign> <lb n="pba_631.012"/> <foreign xml:lang="grc">ἐτύμως·</foreign> <foreign xml:lang="grc">ἐκ δ</foreign>'<foreign xml:lang="grc">ὑγιείας φρενῶν ὁ πᾶσι φίλος καὶ πολύευκτος όλβος</foreign>. <lb n="pba_631.013"/> „Der Scheulosigkeit Kind ist der Frevel gewiß; doch aus Gesundheit <lb n="pba_631.014"/> des Sinnes kommt allgeliebtes, vielersehntes Glück.“ Dieser selbe Gedanke <lb n="pba_631.015"/> wird nun von der Seite der des Gedeihens und des Segens <lb n="pba_631.016"/> waltenden Gottheiten ausgedrückt. Nicht fürchterlich rächend soll ferner <lb n="pba_631.017"/> der Rechtssinn wirken, sondern wohlthätig sich einfügend in die allgemeine <lb n="pba_631.018"/> feste Ordnung. Das wilde Übermaß der die Schicksale begleitenden <lb n="pba_631.019"/> Affekte ist in heilige Schranken eingedämmt, daß es nicht <lb n="pba_631.020"/> mehr zerstörend hervorbricht, sondern in der hohen Verehrung der „wohlgesinnten <lb n="pba_631.021"/> Gottheiten“, der gewaltigen Eumeniden, zu dem „gesunden“ <lb n="pba_631.022"/> Maß, zu jener „rechten <hi rendition="#g">Mitte</hi>“ geläutert und gereinigt werde, der <lb n="pba_631.023"/> Zeus die Kraft beigesellt und die Glücksgewähr gesichert hat. Die Gesetzeswalterinnen <lb n="pba_631.024"/> solchen geordneten Schicksals sind nach griechischer <lb n="pba_631.025"/> Religionsvorstellung die <hi rendition="#g">Moiren,</hi> die Vollzieherinnen aber, die nach <lb n="pba_631.026"/> den ewig geltenden Gesetzen die Schicksale wohlthätig zu ihrer rechten <lb n="pba_631.027"/> Zeit heraufführen, sind die <hi rendition="#g">Horen,</hi> die Töchter der Themis.<note xml:id="pba_631_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_631.034"/> Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen <lb n="pba_631.035"/> Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus, <lb n="pba_631.036"/> der sie mit Bezug auf die Horen <foreign xml:lang="grc">ματροκασιγνῆται</foreign> nennt, kann sowohl das eine <lb n="pba_631.037"/> als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl „Mutterschwestern“ <lb n="pba_631.038"/> bedeuten als „Schwestern von der Mutter her“. (Vgl. G. Hermann: <lb n="pba_631.039"/> Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.)</note> Welchen <lb n="pba_631.028"/> überwältigenden Eindruck mußte es im Gemüt der griechischen Hörer <lb n="pba_631.029"/> hervorbringen, wenn nun die „Furchtbaren“ freundlich gesonnen, ihre <lb n="pba_631.030"/> immerwährende, Verderben abwehrende Gegenwart zusagen und, sie selbst, <lb n="pba_631.031"/> die bis dahin angstvoll Gefürchteten, von den Moiren und Horen den <lb n="pba_631.032"/> Segen für jedes Haus und für jede Stunde, was sie nach der Zeiten <lb n="pba_631.033"/> Gesetz in ihrem Schoße berge, herabfleh'n!<note xml:id="pba_631_2a" n="2" place="foot" next="#pba_631_2b"><lb n="pba_631.040"/> Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben </note></p> </div> </body> </text> </TEI> [631/0649]
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Zorn weicht und sie sich gewinnen lassen. So werden nun die Furchtbaren pba_631.002
zu den „Wohlwollenden“; der „Eumeniden“ hohe unverbrüchliche pba_631.003
Verehrung soll hinfort dem Lande und dem Volke eine Quelle pba_631.004
reichen, herrlichen Segens sein. Gnadenmild und holdgesinnt rufen die pba_631.005
so Verwandelten nun die Horen und ihre Mutterschwestern, die hohen pba_631.006
Moiren, um ihren vollen Schutz für das Land an, wo sie selbst pba_631.007
Wohnsitz gefunden haben, wo fürder kein Haus ohne sie je gedeihen pba_631.008
soll, wo erhöht wird, wer sie verehrt. Die tiefsinnige Chorstrophe ist pba_631.009
nach ihrem vollen Gehalt unübersetzbar, denn sie umfaßt symbolisch den pba_631.010
großen Gedanken des ganzen Dramas. Es ist eine Bestätigung und pba_631.011
Ausführung des früheren Spruchs: δυσσεβίας μὲν ὕβρις τέκος ὡς pba_631.012
ἐτύμως· ἐκ δ'ὑγιείας φρενῶν ὁ πᾶσι φίλος καὶ πολύευκτος όλβος. pba_631.013
„Der Scheulosigkeit Kind ist der Frevel gewiß; doch aus Gesundheit pba_631.014
des Sinnes kommt allgeliebtes, vielersehntes Glück.“ Dieser selbe Gedanke pba_631.015
wird nun von der Seite der des Gedeihens und des Segens pba_631.016
waltenden Gottheiten ausgedrückt. Nicht fürchterlich rächend soll ferner pba_631.017
der Rechtssinn wirken, sondern wohlthätig sich einfügend in die allgemeine pba_631.018
feste Ordnung. Das wilde Übermaß der die Schicksale begleitenden pba_631.019
Affekte ist in heilige Schranken eingedämmt, daß es nicht pba_631.020
mehr zerstörend hervorbricht, sondern in der hohen Verehrung der „wohlgesinnten pba_631.021
Gottheiten“, der gewaltigen Eumeniden, zu dem „gesunden“ pba_631.022
Maß, zu jener „rechten Mitte“ geläutert und gereinigt werde, der pba_631.023
Zeus die Kraft beigesellt und die Glücksgewähr gesichert hat. Die Gesetzeswalterinnen pba_631.024
solchen geordneten Schicksals sind nach griechischer pba_631.025
Religionsvorstellung die Moiren, die Vollzieherinnen aber, die nach pba_631.026
den ewig geltenden Gesetzen die Schicksale wohlthätig zu ihrer rechten pba_631.027
Zeit heraufführen, sind die Horen, die Töchter der Themis. 1 Welchen pba_631.028
überwältigenden Eindruck mußte es im Gemüt der griechischen Hörer pba_631.029
hervorbringen, wenn nun die „Furchtbaren“ freundlich gesonnen, ihre pba_631.030
immerwährende, Verderben abwehrende Gegenwart zusagen und, sie selbst, pba_631.031
die bis dahin angstvoll Gefürchteten, von den Moiren und Horen den pba_631.032
Segen für jedes Haus und für jede Stunde, was sie nach der Zeiten pba_631.033
Gesetz in ihrem Schoße berge, herabfleh'n! 2
1 pba_631.034
Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen pba_631.035
Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus, pba_631.036
der sie mit Bezug auf die Horen ματροκασιγνῆται nennt, kann sowohl das eine pba_631.037
als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl „Mutterschwestern“ pba_631.038
bedeuten als „Schwestern von der Mutter her“. (Vgl. G. Hermann: pba_631.039
Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.)
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Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben
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