Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_620.001 pba_620.003 Ein andres Antlitz, eh sie geschehen, pba_620.007 Ein anderes zeigt die vollbrachte That. pba_620.008 Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen, pba_620.009 Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen; pba_620.010 Aber ist sie geschehn und begangen, pba_620.011 Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen. pba_620.012 Selber die schrecklichen Furien schwangen pba_620.013 Gegen Orestes die höllischen Schlangen, pba_620.014 Reizten den Sohn zu dem Muttermord an; pba_620.015 Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen pba_620.016 Wußten sie listig sein Herz zu betrügen, pba_620.017 Bis er die tödliche That nun gethan -- pba_620.018 Aber da er den Schoß jetzt geschlagen, pba_620.019 Der ihn empfangen und liebend getragen, pba_620.020 Siehe, da kehrten sie pba_620.021 Gegen ihn selber pba_620.022 Schrecklich sich um -- pba_620.023 Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun, pba_620.024 Die den Mörder ergreifend fassen, pba_620.025 Die von jetzt an ihn nimmer lassen, pba_620.026 Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen, pba_620.027 Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen, pba_620.028 Bis in das delphische Heiligtum. pba_620.029 Nun preis' ich mich, nun jammer' ich laut auf, hier zu stehn pba_620.039 1Und anzureden meines Vaters Mordgespinst; pba_620.040 Es quält mich meine That, mein Leid, all mein Geschlecht, pba_620.041 Mit dieses Sieges reicher Schuld verflucht zu sein! 1 pba_620.042
S. V. 1011, 12: algo men erga kai pathos, genos te pan, pba_620.043 azela nikes tesd' ekhon miasmata. pba_620.001 pba_620.003 Ein andres Antlitz, eh sie geschehen, pba_620.007 Ein anderes zeigt die vollbrachte That. pba_620.008 Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen, pba_620.009 Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen; pba_620.010 Aber ist sie geschehn und begangen, pba_620.011 Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen. pba_620.012 Selber die schrecklichen Furien schwangen pba_620.013 Gegen Orestes die höllischen Schlangen, pba_620.014 Reizten den Sohn zu dem Muttermord an; pba_620.015 Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen pba_620.016 Wußten sie listig sein Herz zu betrügen, pba_620.017 Bis er die tödliche That nun gethan — pba_620.018 Aber da er den Schoß jetzt geschlagen, pba_620.019 Der ihn empfangen und liebend getragen, pba_620.020 Siehe, da kehrten sie pba_620.021 Gegen ihn selber pba_620.022 Schrecklich sich um — pba_620.023 Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun, pba_620.024 Die den Mörder ergreifend fassen, pba_620.025 Die von jetzt an ihn nimmer lassen, pba_620.026 Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen, pba_620.027 Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen, pba_620.028 Bis in das delphische Heiligtum. pba_620.029 Nun preis' ich mich, nun jammer' ich laut auf, hier zu stehn pba_620.039 1Und anzureden meines Vaters Mordgespinst; pba_620.040 Es quält mich meine That, mein Leid, all mein Geschlecht, pba_620.041 Mit dieses Sieges reicher Schuld verflucht zu sein! 1 pba_620.042
S. V. 1011, 12: ἀλγῶ μὲν ἔργα καὶ πάθος, γένος τε πᾶν, pba_620.043 ἄζηλα νίκης τῆσδ' ἔχων μιάσματα. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0638" n="620"/><lb n="pba_620.001"/> und selbstvergessene Hingabe an die sühnende Gottheit, gläubige Unterwerfung <lb n="pba_620.002"/> unter ihren Spruch.</p> <p><lb n="pba_620.003"/> Mit feinstem Gefühl für die Absicht des Dichters hat <hi rendition="#g">Schiller</hi> <lb n="pba_620.004"/> in einem Chorlied der „Braut von Messina“ das Verständnis derselben <lb n="pba_620.005"/> erschlossen:</p> <lb n="pba_620.006"/> <lg> <l>Ein andres Antlitz, eh sie geschehen,</l> <lb n="pba_620.007"/> <l>Ein anderes zeigt die vollbrachte That.</l> <lb n="pba_620.008"/> <l>Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen,</l> <lb n="pba_620.009"/> <l>Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen;</l> <lb n="pba_620.010"/> <l>Aber ist sie geschehn und begangen,</l> <lb n="pba_620.011"/> <l>Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen.</l> <lb n="pba_620.012"/> <l>Selber die schrecklichen Furien schwangen</l> <lb n="pba_620.013"/> <l>Gegen Orestes die höllischen Schlangen,</l> <lb n="pba_620.014"/> <l>Reizten den Sohn zu dem Muttermord an;</l> <lb n="pba_620.015"/> <l>Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen</l> <lb n="pba_620.016"/> <l>Wußten sie listig sein Herz zu betrügen,</l> <lb n="pba_620.017"/> <l>Bis er die tödliche That nun gethan —</l> <lb n="pba_620.018"/> <l>Aber da er den Schoß jetzt geschlagen,</l> <lb n="pba_620.019"/> <l>Der ihn empfangen und liebend getragen,</l> <lb n="pba_620.020"/> <l>Siehe, da kehrten sie</l> <lb n="pba_620.021"/> <l>Gegen ihn selber</l> <lb n="pba_620.022"/> <l>Schrecklich sich um —</l> <lb n="pba_620.023"/> <l>Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun,</l> <lb n="pba_620.024"/> <l>Die den Mörder ergreifend fassen,</l> <lb n="pba_620.025"/> <l>Die von jetzt an ihn nimmer lassen,</l> <lb n="pba_620.026"/> <l>Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen,</l> <lb n="pba_620.027"/> <l>Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen,</l> <lb n="pba_620.028"/> <l>Bis in das delphische Heiligtum.</l> </lg> <p><lb n="pba_620.029"/> So kommt nun am Schlusse des Stückes erst die volle Tragik zur <lb n="pba_620.030"/> Geltung. Bis dahin wirkte nur das furchtbar leidvoll („pathetisch“) <lb n="pba_620.031"/> Tragische und freilich das Vorgefühl der unvermeidlichen Konsequenzen; <lb n="pba_620.032"/> jetzt erst kommt das Mitleid mit dem Sohne, der zu solcher That durch <lb n="pba_620.033"/> das Geschick geführt wurde zu voller Kraft und mit ihm die tragische <lb n="pba_620.034"/> Furcht vor solchen Gefahren des Schicksals. Die Zweifel erfassen ihn <lb n="pba_620.035"/> mit nicht abzuschüttelnder Gewalt; vergebens läßt er die stummen Zeugen <lb n="pba_620.036"/> von seiner Mutter Schuld reden, „die Blutflecke, die des Purpurs <lb n="pba_620.037"/> Farbe weggefressen haben“.</p> <lb n="pba_620.038"/> <lg> <l>Nun preis' ich mich, nun jammer' ich laut auf, hier zu stehn</l> <lb n="pba_620.039"/> <l>Und anzureden meines Vaters Mordgespinst;</l> <lb n="pba_620.040"/> <l>Es quält mich meine That, mein Leid, all mein Geschlecht,</l> <lb n="pba_620.041"/> <l>Mit dieses Sieges reicher Schuld verflucht zu sein!</l> </lg> <note xml:id="pba_620_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_620.042"/> S. V. 1011, 12: <foreign xml:lang="grc">ἀλγῶ μὲν ἔργα καὶ πάθος, γένος τε πᾶν</foreign>, <lb n="pba_620.043"/> <hi rendition="#right"><foreign xml:lang="grc">ἄζηλα νίκης τῆσδ' ἔχων μιάσματα</foreign>.</hi></note> </div> </body> </text> </TEI> [620/0638]
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und selbstvergessene Hingabe an die sühnende Gottheit, gläubige Unterwerfung pba_620.002
unter ihren Spruch.
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Mit feinstem Gefühl für die Absicht des Dichters hat Schiller pba_620.004
in einem Chorlied der „Braut von Messina“ das Verständnis derselben pba_620.005
erschlossen:
pba_620.006
Ein andres Antlitz, eh sie geschehen, pba_620.007
Ein anderes zeigt die vollbrachte That. pba_620.008
Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen, pba_620.009
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Bis in das delphische Heiligtum.
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So kommt nun am Schlusse des Stückes erst die volle Tragik zur pba_620.030
Geltung. Bis dahin wirkte nur das furchtbar leidvoll („pathetisch“) pba_620.031
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das Geschick geführt wurde zu voller Kraft und mit ihm die tragische pba_620.034
Furcht vor solchen Gefahren des Schicksals. Die Zweifel erfassen ihn pba_620.035
mit nicht abzuschüttelnder Gewalt; vergebens läßt er die stummen Zeugen pba_620.036
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Farbe weggefressen haben“.
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