Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_610.001 pba_610.013 pba_610.022 1 pba_610.024
Schon A. W. Schlegel äußert sich in ähnlicher Weise darüber (s. A. W. pba_610.025 Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Teil II. Geschichte der klassischen pba_610.026 Litteratur. Heilbronn, 1884 in den Neudrucken deutsch. Litt. Denkm. S. 371): pba_610.027 "Das Stück des Euripides ist ein seltenes Beispiel poetischer Unvernunft. Warum pba_610.028 narrt z. B. Orest seine Schwester so lange, ohne sich ihr zu erkennen zu geben? -- pba_610.029 Was etwa von tragischen Anklängen vorkommt, ist nicht sein eigen: es gehört dem pba_610.030 Mythus, seinen Vorgängern und der Observanz an. Durch seine Jntentionen ist es pba_610.031 wenigstens keine Tragödie, sondern vielmehr ein Familiengemälde in der modernen pba_610.032 Bedeutung des Worts geworden. Die Effekte mit der Dürftigkeit der Elektra z. B. pba_610.033 sind elend. Alle Vorbereitungen zu der That sind äußerst leichtsinnig; die That wird pba_610.034 gleich nach der Vollbringung durch die schwächlichste Reue wieder ausgelöscht. Von den pba_610.035 Lästerungen gegen das Orakel will ich gar nichts sagen. Da das ganze Stück dadurch pba_610.036 vernichtet wird, so sehe ich nicht ein, wozu es Euripides überhaupt geschrieben, wenn pba_610.037 es nicht war, um die Elektra an den Mann zu bringen, und den alten Bauer, zur pba_610.038 Belohnung seiner Enthaltsamkeit, sein Glück machen zu lassen. Jch wünschte nur, daß pba_610.039 die Vermählung des Pylades mit der Elektra vor sich ginge und der Bauer eine erschreckliche pba_610.040 Summe Geldes ausgezahlt erhielte: so würde alles zur Satisfaktion der pba_610.041 Zuschauer, wie eine moderne Komödie, endigen." pba_610.001 pba_610.013 pba_610.022 1 pba_610.024
Schon A. W. Schlegel äußert sich in ähnlicher Weise darüber (s. A. W. pba_610.025 Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Teil II. Geschichte der klassischen pba_610.026 Litteratur. Heilbronn, 1884 in den Neudrucken deutsch. Litt. Denkm. S. 371): pba_610.027 „Das Stück des Euripides ist ein seltenes Beispiel poetischer Unvernunft. Warum pba_610.028 narrt z. B. Orest seine Schwester so lange, ohne sich ihr zu erkennen zu geben? — pba_610.029 Was etwa von tragischen Anklängen vorkommt, ist nicht sein eigen: es gehört dem pba_610.030 Mythus, seinen Vorgängern und der Observanz an. Durch seine Jntentionen ist es pba_610.031 wenigstens keine Tragödie, sondern vielmehr ein Familiengemälde in der modernen pba_610.032 Bedeutung des Worts geworden. Die Effekte mit der Dürftigkeit der Elektra z. B. pba_610.033 sind elend. Alle Vorbereitungen zu der That sind äußerst leichtsinnig; die That wird pba_610.034 gleich nach der Vollbringung durch die schwächlichste Reue wieder ausgelöscht. Von den pba_610.035 Lästerungen gegen das Orakel will ich gar nichts sagen. Da das ganze Stück dadurch pba_610.036 vernichtet wird, so sehe ich nicht ein, wozu es Euripides überhaupt geschrieben, wenn pba_610.037 es nicht war, um die Elektra an den Mann zu bringen, und den alten Bauer, zur pba_610.038 Belohnung seiner Enthaltsamkeit, sein Glück machen zu lassen. Jch wünschte nur, daß pba_610.039 die Vermählung des Pylades mit der Elektra vor sich ginge und der Bauer eine erschreckliche pba_610.040 Summe Geldes ausgezahlt erhielte: so würde alles zur Satisfaktion der pba_610.041 Zuschauer, wie eine moderne Komödie, endigen.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0628" n="610"/><lb n="pba_610.001"/> bieten, bleibt die Frage für alle Zeiten eine offene, immer wieder neu <lb n="pba_610.002"/> zu lösende. 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Aber jeder dieser Fälle <lb n="pba_610.010"/> bietet der Auffassung die verschiedensten Seiten dar, er läßt die mannigfaltigste <lb n="pba_610.011"/> dramatische Behandlung zu; und so haben denn auch die genannten <lb n="pba_610.012"/> Tragiker ihre Aufgabe in der denkbar verschiedensten Weise gelöst.</p> <p><lb n="pba_610.013"/> Äschylus und Sophokles haben den Stoff in seinem tiefsten Grunde <lb n="pba_610.014"/> erfaßt und, indem sie völlig getrennte Wege einschlagen, beide ihn zu <lb n="pba_610.015"/> grandioser tragischer Wirkung gebracht; das Stück des Euripides gibt <lb n="pba_610.016"/> nur Veranlassung zu zeigen, was alles er an dem großartigen Stoff <lb n="pba_610.017"/> verdorben hat. 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bieten, bleibt die Frage für alle Zeiten eine offene, immer wieder neu pba_610.002
zu lösende. Solche Größe der Verhältnisse, wo eben die einfache Entscheidung pba_610.003
auf gesetzlichem Wege als von vornherein gegeben nicht der pba_610.004
Handlung ihren Verlauf zwangsweise vorschreibt, ist das Feld für die pba_610.005
tragischen Handlungen. Jst nun hier der Handelnde durch die Schuld pba_610.006
der vorangegangenen Geschlechter belastet, wird ihm durch die Umstände pba_610.007
die Aufgabe zugewiesen diese Schuld zu sühnen, sie an den ihm zunächst pba_610.008
stehenden Blutsverwandten gewaltsam, blutig zu sühnen, so stellt eine pba_610.009
solche Handlung den Gipfel des Tragischen dar. Aber jeder dieser Fälle pba_610.010
bietet der Auffassung die verschiedensten Seiten dar, er läßt die mannigfaltigste pba_610.011
dramatische Behandlung zu; und so haben denn auch die genannten pba_610.012
Tragiker ihre Aufgabe in der denkbar verschiedensten Weise gelöst.
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Äschylus und Sophokles haben den Stoff in seinem tiefsten Grunde pba_610.014
erfaßt und, indem sie völlig getrennte Wege einschlagen, beide ihn zu pba_610.015
grandioser tragischer Wirkung gebracht; das Stück des Euripides gibt pba_610.016
nur Veranlassung zu zeigen, was alles er an dem großartigen Stoff pba_610.017
verdorben hat. Die handgreiflichen Fehler dieser seltsamen Komposition pba_610.018
sind so grotesk, daß trotz des durchgehenden Ernstes der Behandlung pba_610.019
man an vielen Stellen immer wieder aufs neue versucht wird fast an pba_610.020
absichtliche Parodierung zu glauben. Mit nicht allzugroßen Änderungen pba_610.021
könnte aus dem Stück eine parodische Komödie gemacht werden. 1
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Sehr treffend urteilt Goethe in einem Brief an Zelter (28. Juli pba_610.023
1803) über den Chor und zugleich über die Epochen der griechischen
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Schon A. W. Schlegel äußert sich in ähnlicher Weise darüber (s. A. W. pba_610.025
Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Teil II. Geschichte der klassischen pba_610.026
Litteratur. Heilbronn, 1884 in den Neudrucken deutsch. Litt. Denkm. S. 371): pba_610.027
„Das Stück des Euripides ist ein seltenes Beispiel poetischer Unvernunft. Warum pba_610.028
narrt z. B. Orest seine Schwester so lange, ohne sich ihr zu erkennen zu geben? — pba_610.029
Was etwa von tragischen Anklängen vorkommt, ist nicht sein eigen: es gehört dem pba_610.030
Mythus, seinen Vorgängern und der Observanz an. Durch seine Jntentionen ist es pba_610.031
wenigstens keine Tragödie, sondern vielmehr ein Familiengemälde in der modernen pba_610.032
Bedeutung des Worts geworden. Die Effekte mit der Dürftigkeit der Elektra z. B. pba_610.033
sind elend. Alle Vorbereitungen zu der That sind äußerst leichtsinnig; die That wird pba_610.034
gleich nach der Vollbringung durch die schwächlichste Reue wieder ausgelöscht. Von den pba_610.035
Lästerungen gegen das Orakel will ich gar nichts sagen. Da das ganze Stück dadurch pba_610.036
vernichtet wird, so sehe ich nicht ein, wozu es Euripides überhaupt geschrieben, wenn pba_610.037
es nicht war, um die Elektra an den Mann zu bringen, und den alten Bauer, zur pba_610.038
Belohnung seiner Enthaltsamkeit, sein Glück machen zu lassen. Jch wünschte nur, daß pba_610.039
die Vermählung des Pylades mit der Elektra vor sich ginge und der Bauer eine erschreckliche pba_610.040
Summe Geldes ausgezahlt erhielte: so würde alles zur Satisfaktion der pba_610.041
Zuschauer, wie eine moderne Komödie, endigen.“
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