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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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ein unsicherer Tritt ihn in ihrem Netze rettungslos verstrickt. Schuldlos pba_609.002
verfiele er so jenem "größten Übel", der großen, allgemeinen pba_609.003
Schuld des menschlichen Geschlechtes,
ein tragischer Gegenstand pba_609.004
zugleich unseres Mitleids und unserer Furcht!



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XXIX.

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Faßt man alles in eins zusammen: so ist es die völlige Übereinstimmung pba_609.007
mit dem Gesetz und dem Bau der antiken Tragödie, wodurch pba_609.008
"die Braut von Messina" ihrem Dichter selbst bei ihrer Aufführung pba_609.009
"zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie" verschaffte und pba_609.010
wodurch Goethe "den theatralischen Boden zu etwas Höherem eingeweiht" pba_609.011
hielt. Es tritt in diesem Stück das Grundwesen des Tragischen pba_609.012
mit derselben Klarheit und in derselben Einfachheit zu Tage wie bei pba_609.013
den großen Alten, unverhüllt durch das reiche Beiwerk, wodurch in der pba_609.014
modernen Tragödie der Blick so leicht irre geführt wird. Daß es aber pba_609.015
trotz reichster, kunstvollster Ausführung in seinem Kerne unverändert pba_609.016
dasselbe bleibt, mag zum Schlusse durch eine Vergleichung der Art und pba_609.017
Weise gezeigt werden, wie die drei großen Tragiker des Altertums und pba_609.018
der größe Tragiker der modernen Zeit ein und dasselbe tragische Problem pba_609.019
behandelt haben.

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Es ist unter allen tragischen Motiven das tragischte: schwere pba_609.021
Schuld der Mutter,
die nicht anders gesühnt werden kann als pba_609.022
durch die rächende That des Sohnes! Es ist die tragische Fabel pba_609.023
der Orestie, die Äschylus in den "Choephoren" und "Eumeniden", pba_609.024
Sophokles und Euripides in ihrer "Elektra" behandelt haben; derselbe pba_609.025
Stoff liegt Shakespeares "Hamlet" zu Grunde.

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Diese Vergleichung bietet eine Fülle der interessantesten Gesichtspunkte; pba_609.027
doch gilt es hier nur die eine Frage ins Auge zu fassen: wie pba_609.028
hat jeder dieser Dichter dem Stoff die tragische Wirkung abgewonnen?

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Das frevelhaft vergossene Blut verlangt zur Sühne das Blut des pba_609.031
Mörders: diese uralte, ursprünglich allen Völkern gemeinsame Anschauung pba_609.032
verliert selbst in Zeiten, in denen das bürgerliche Gesetz herrschend geworden pba_609.033
ist, niemals ihre Kraft völlig. Gibt es doch sogar noch bei pba_609.034
uns viel umstrittene Grenzgebiete, in denen die blutige Selbsthülfe sich pba_609.035
unausrottbar behauptet. Jn den großen Verhältnissen jedoch, wo das pba_609.036
bürgerliche Gesetz seine Kraft verliert, wo zwingende übermächtige Rücksichten pba_609.037
dennoch Herstellung des Rechtes, Ausgleichung des Frevels ge-

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ein unsicherer Tritt ihn in ihrem Netze rettungslos verstrickt. Schuldlos pba_609.002
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pba_609.005
XXIX.

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Faßt man alles in eins zusammen: so ist es die völlige Übereinstimmung pba_609.007
mit dem Gesetz und dem Bau der antiken Tragödie, wodurch pba_609.008
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Es ist unter allen tragischen Motiven das tragischte: schwere pba_609.021
Schuld der Mutter,
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Sophokles und Euripides in ihrer „Elektra“ behandelt haben; derselbe pba_609.025
Stoff liegt Shakespeares „Hamlet“ zu Grunde.

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Diese Vergleichung bietet eine Fülle der interessantesten Gesichtspunkte; pba_609.027
doch gilt es hier nur die eine Frage ins Auge zu fassen: wie pba_609.028
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Das frevelhaft vergossene Blut verlangt zur Sühne das Blut des pba_609.031
Mörders: diese uralte, ursprünglich allen Völkern gemeinsame Anschauung pba_609.032
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/627>, abgerufen am 22.11.2024.