Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_606.001 Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010 Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. pba_606.011 Warum besuchen wir die heil'gen Häuser pba_606.012 Und heben zu dem Himmel fromme Hände? pba_606.013 Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir pba_606.014 Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, pba_606.015 Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen, pba_606.016 Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. pba_606.017 Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018 Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, pba_606.019 Ob rechts die Vögel fliegen oder links, pba_606.020 Die Sterne so sich oder anders fügen, pba_606.021 Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, pba_606.022 Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen. pba_606.023 Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025 Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht pba_606.026 Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027 Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben! pba_606.028 Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033 Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. pba_606.034 Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, pba_606.035 Der muß es selber erbauend vollenden. pba_606.036 pba_606.001 Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010 Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. pba_606.011 Warum besuchen wir die heil'gen Häuser pba_606.012 Und heben zu dem Himmel fromme Hände? pba_606.013 Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir pba_606.014 Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, pba_606.015 Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen, pba_606.016 Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. pba_606.017 Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018 Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, pba_606.019 Ob rechts die Vögel fliegen oder links, pba_606.020 Die Sterne so sich oder anders fügen, pba_606.021 Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, pba_606.022 Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen. pba_606.023 Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025 Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht pba_606.026 Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027 Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben! pba_606.028 Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033 Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. pba_606.034 Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, pba_606.035 Der muß es selber erbauend vollenden. pba_606.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0624" n="606"/><lb n="pba_606.001"/> schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am <lb n="pba_606.002"/> stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube <lb n="pba_606.003"/> <hi rendition="#g">an sich</hi> für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei <lb n="pba_606.004"/> den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes <lb n="pba_606.005"/> er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache <lb n="pba_606.006"/> Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der <lb n="pba_606.007"/> Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen, <lb n="pba_606.008"/> der Gültigkeit hat für alle Zeiten:</p> <lb n="pba_606.009"/> <lg> <l>Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut</l> <lb n="pba_606.010"/> <l>Wie mir das Herz gebietet, will ich reden.</l> <lb n="pba_606.011"/> <l> <hi rendition="#g">Warum besuchen wir die heil'gen Häuser</hi> </l> <lb n="pba_606.012"/> <l> <hi rendition="#g">Und heben zu dem Himmel fromme Hände?</hi> </l> <lb n="pba_606.013"/> <l> <hi rendition="#g">Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir</hi> </l> <lb n="pba_606.014"/> <l><hi rendition="#g">Mit unserm Glauben?</hi> So unmöglich ist's,</l> <lb n="pba_606.015"/> <l>Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen,</l> <lb n="pba_606.016"/> <l>Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen.</l> <lb n="pba_606.017"/> <l>Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft,</l> <lb n="pba_606.018"/> <l>Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel,</l> <lb n="pba_606.019"/> <l>Ob rechts die Vögel fliegen oder links,</l> <lb n="pba_606.020"/> <l>Die Sterne <hi rendition="#g">so</hi> sich oder anders fügen,</l> <lb n="pba_606.021"/> <l> <hi rendition="#g">Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur,</hi> </l> <lb n="pba_606.022"/> <l>Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen.</l> </lg> <p><lb n="pba_606.023"/> Und der Chor:</p> <lb n="pba_606.024"/> <lg> <l>Halt ein, Unglückliche! 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Sie treibt die Verblendete zu dem <lb n="pba_606.037"/> letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben <lb n="pba_606.038"/> zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung, <lb n="pba_606.039"/> die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne <lb n="pba_606.040"/> los, „der ihr den <hi rendition="#g">bessern</hi> Sohn zu Tode stach“:</p> </div> </body> </text> </TEI> [606/0624]
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schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am pba_606.002
stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube pba_606.003
an sich für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei pba_606.004
den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes pba_606.005
er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache pba_606.006
Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der pba_606.007
Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen, pba_606.008
der Gültigkeit hat für alle Zeiten:
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Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010
Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. pba_606.011
Warum besuchen wir die heil'gen Häuser pba_606.012
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Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir pba_606.014
Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, pba_606.015
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Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. pba_606.017
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018
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Und der Chor:
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Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025
Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht pba_606.026
Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027
Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!
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Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das pba_606.029
Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der pba_606.030
Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit „all dies Gräßliche verschuldet“ pba_606.031
hat.
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Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033
Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. pba_606.034
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, pba_606.035
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Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem pba_606.037
letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben pba_606.038
zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung, pba_606.039
die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne pba_606.040
los, „der ihr den bessern Sohn zu Tode stach“:
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