pba_553.001 Die Sache liegt also seltsam genug so: Schiller macht den schlimmsten pba_553.002 Jrrtum des Dubos mit, er hält nämlich die durch die Tragödie pba_553.003 bei den Zuschauern erregten Hauptaffekte für mitgeteilte, nachempfundene,pba_553.004 statt zu erkennen, daß Mitleid wie Furcht, von der er pba_553.005 freilich gar nicht spricht, erste, ursprüngliche Empfindungen seien, pba_553.006 was schon von Lessing mit Nachdruck hervorgehoben war; dann aber ist pba_553.007 er nahe daran, diesen Jrrtum wenigstens in seinen Folgen zu korrigieren, pba_553.008 wenn er den falschen Schluß ablehnt, daß die angenommene pba_553.009 sekundäre Natur des Mitleids das Schmerzliche desselben in ein Wohlgefälliges pba_553.010 verwandeln werde. Denn auf diese Weise wird die Frage, pba_553.011 wie diese Umwandlung erfolgt, wieder eine offene. Aber er greift auch pba_553.012 hier wieder sofort zu dem moralischen Surrogat, das nun einmal seiner pba_553.013 sittlich so hoch gespannten Natur zunächst lag. So verschließt er sich pba_553.014 denn den Weg zu der einfachen, klaren, ästhetischen Auffassung um so pba_553.015 fester, als eine gewisse Ähnlichkeit der Resultate ihn in der Täuschung pba_553.016 befestigt, eine Ähnlichkeit, die jedoch die Fehlerhaftigkeit der Theorie in pba_553.017 keinem Punkte zu verhüten vermag. Denn natürlich ist der richtige pba_553.018 Affekt derselbe, ob er nun unmittelbar, rein ästhetisch, als solcher entsteht pba_553.019 oder doch durch bloße Einwirkung sinnlicher Wahrnehmung, also pba_553.020 durch rein ästhetische Mittel zuwege gebracht wird, oder ob durch bewußte pba_553.021 Einwirkung von Vernunftvorstellungen, durch das Gegengewicht pba_553.022 sittlicher Erziehung diese Arbeit geleistet wird. Wenn es aber darauf pba_553.023 ankommt, gerade jene ästhetischen Mittel und die Art ihrer pba_553.024 Anwendung zu bestimmen, so leuchtet es ein, daß die Annahme, pba_553.025 die Veredelung des Affektes sei eine moralische Leistung, genügend pba_553.026 ist, um den Erfolg einer von diesem Princip geleiteten Untersuchung pba_553.027 von vornherein zu vereiteln.
pba_553.028 Gerade so aber verfährt Schiller. Seine Sätze sind an sich vollkommen pba_553.029 korrekt, nur gehören sie ausschließlich dem Gebiet der Ethik an pba_553.030 und haben mit der Frage nach der unmittelbaren Wirkung der pba_553.031 Kunst nichts zu thun. Er leitet Lust und Unlust der Affekte von ihrer pba_553.032 Beziehung auf unser sinnliches oder sittliches Vermögen her. Die Freiheit, pba_553.033 die dem Affekte gegenüber behauptet wird, rührt her von dem pba_553.034 Übergewicht "des moralischen Sinnes über die eigennützige Anhänglichkeit pba_553.035 an das individuelle Jch", von "der Obergewalt des allgemeinen pba_553.036 Vernunftgesetzes über den Glückseligkeitstrieb". "Eine solche Verfassung pba_553.037 des Gemüts ist am fähigsten, das Vergnügen des Mitleids zu pba_553.038 genießen und selbst den ursprünglichen Affekt in den Schranken des pba_553.039 Mitleids zu erhalten," wobei also Schiller, seinem Grundirrtum zufolge, pba_553.040 das Mitleid als "mitgeteilten" Affekt mit dem Schmerz über
pba_553.001 Die Sache liegt also seltsam genug so: Schiller macht den schlimmsten pba_553.002 Jrrtum des Dubos mit, er hält nämlich die durch die Tragödie pba_553.003 bei den Zuschauern erregten Hauptaffekte für mitgeteilte, nachempfundene,pba_553.004 statt zu erkennen, daß Mitleid wie Furcht, von der er pba_553.005 freilich gar nicht spricht, erste, ursprüngliche Empfindungen seien, pba_553.006 was schon von Lessing mit Nachdruck hervorgehoben war; dann aber ist pba_553.007 er nahe daran, diesen Jrrtum wenigstens in seinen Folgen zu korrigieren, pba_553.008 wenn er den falschen Schluß ablehnt, daß die angenommene pba_553.009 sekundäre Natur des Mitleids das Schmerzliche desselben in ein Wohlgefälliges pba_553.010 verwandeln werde. Denn auf diese Weise wird die Frage, pba_553.011 wie diese Umwandlung erfolgt, wieder eine offene. Aber er greift auch pba_553.012 hier wieder sofort zu dem moralischen Surrogat, das nun einmal seiner pba_553.013 sittlich so hoch gespannten Natur zunächst lag. So verschließt er sich pba_553.014 denn den Weg zu der einfachen, klaren, ästhetischen Auffassung um so pba_553.015 fester, als eine gewisse Ähnlichkeit der Resultate ihn in der Täuschung pba_553.016 befestigt, eine Ähnlichkeit, die jedoch die Fehlerhaftigkeit der Theorie in pba_553.017 keinem Punkte zu verhüten vermag. Denn natürlich ist der richtige pba_553.018 Affekt derselbe, ob er nun unmittelbar, rein ästhetisch, als solcher entsteht pba_553.019 oder doch durch bloße Einwirkung sinnlicher Wahrnehmung, also pba_553.020 durch rein ästhetische Mittel zuwege gebracht wird, oder ob durch bewußte pba_553.021 Einwirkung von Vernunftvorstellungen, durch das Gegengewicht pba_553.022 sittlicher Erziehung diese Arbeit geleistet wird. Wenn es aber darauf pba_553.023 ankommt, gerade jene ästhetischen Mittel und die Art ihrer pba_553.024 Anwendung zu bestimmen, so leuchtet es ein, daß die Annahme, pba_553.025 die Veredelung des Affektes sei eine moralische Leistung, genügend pba_553.026 ist, um den Erfolg einer von diesem Princip geleiteten Untersuchung pba_553.027 von vornherein zu vereiteln.
pba_553.028 Gerade so aber verfährt Schiller. Seine Sätze sind an sich vollkommen pba_553.029 korrekt, nur gehören sie ausschließlich dem Gebiet der Ethik an pba_553.030 und haben mit der Frage nach der unmittelbaren Wirkung der pba_553.031 Kunst nichts zu thun. Er leitet Lust und Unlust der Affekte von ihrer pba_553.032 Beziehung auf unser sinnliches oder sittliches Vermögen her. Die Freiheit, pba_553.033 die dem Affekte gegenüber behauptet wird, rührt her von dem pba_553.034 Übergewicht „des moralischen Sinnes über die eigennützige Anhänglichkeit pba_553.035 an das individuelle Jch“, von „der Obergewalt des allgemeinen pba_553.036 Vernunftgesetzes über den Glückseligkeitstrieb“. „Eine solche Verfassung pba_553.037 des Gemüts ist am fähigsten, das Vergnügen des Mitleids zu pba_553.038 genießen und selbst den ursprünglichen Affekt in den Schranken des pba_553.039 Mitleids zu erhalten,“ wobei also Schiller, seinem Grundirrtum zufolge, pba_553.040 das Mitleid als „mitgeteilten“ Affekt mit dem Schmerz über
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/571>, abgerufen am 25.11.2024.
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