pba_509.001 würde, wenn die Kunst des Dichters es nicht versteht, sie mit einer pba_509.002 inneren Wandlung der handelnden Personen in organische Verbindung zu pba_509.003 setzen. Auch hier kann eine Wandlung von Unkenntnis in Kenntnis pba_509.004 vorgehen, von Befangenheit in Klarheit des Sinns, und die berichtigende pba_509.005 Auflösung einer jeden Hamartie ist eine solche enthüllende Wandlung. pba_509.006 Jn der That erreicht keine dramatische Wirkung die kathartische Kraft pba_509.007 einer solchen Wandlung, wenn sie aus dem Kerne der Handlung hervorgehend pba_509.008 mit siegender Gewalt das schwer herabhängende, drohende Gewölk pba_509.009 des Schicksals zerteilt. Was könnte in dieser Beziehung sich mit pba_509.010 dem Schlußakte von Goethes "Jphigenia" vergleichen? "Alle menschlichen pba_509.011 Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit," so faßte der Meister selbst pba_509.012 das Wesen jener Wirkung in Worte; und was dort dem Fluche eines pba_509.013 ganzen Geschlechtes gegenüber die leuchtende Reinheit einer fleckenlosen pba_509.014 Jungfrau vollbringt, das bewirkt minder grausigem Geschick gegenüber pba_509.015 die Umwandlung der Hamartie im Gemüte des Handelnden zur Phronesis, pba_509.016 zur Klarheit und Richtigkeit des Sinns.
pba_509.017 Hiervon ist der Philoktet des Sophokles ein unvergleichliches Beispiel. pba_509.018 Freilich wird die "Wandlung" seines unbeugsam trotzigen Sinnes pba_509.019 durch eine unmittelbare "Enthüllung" des göttlichen Ratschlusses entschieden. pba_509.020 Herakles verkündet, auf einer Wolke herabschwebend, den Willen pba_509.021 des Zeus, und "freudig gehorcht" der Held dem Rufe des göttlichen pba_509.022 Freundes. Aber mit welcher Meisterschaft hat der Dichter diese scheinbar pba_509.023 gewaltsame und willkürliche Lösung vorbereitet, das unmittelbare pba_509.024 Eingreifen des Gottes in die unlösbar erscheinende Verwickelung und pba_509.025 die anscheinend plötzliche und unmotivierte Sinnesänderung des bisher pba_509.026 durch nichts zu bewegenden Helden!
pba_509.027 Die ganze, unvergleichlich kunstreiche Anlage der Handlung zielt pba_509.028 auf dieses Ergebnis. Der unbezähmbare Haß des Philoktet gegen die pba_509.029 Anstifter seiner Verstoßung, der ungeachtet seines namenlosen Elends pba_509.030 unbesiegbare Widerstand gegen den Seherspruch, der ihm selbst Rettung, pba_509.031 dem großen Unternehmen seines Volkes den Sieg verheißt, macht seine pba_509.032 Hamartie aus, die jetzt die unwiderrufliche Fortdauer seines Leidens zu pba_509.033 besiegeln droht und die auch als die Ursache desselben angesehen werden pba_509.034 muß: denn was anders hat ihm den Zorn und die Strafe der Götter pba_509.035 zugezogen als der heldenhafte Trotz, der im Vertrauen auf die eigene, pba_509.036 durch den Besitz der unentrinnbaren Pfeile des Herakles zum höchsten pba_509.037 gesteigerte Kraft die Heiligtümer und die sie schützenden Satzungen nicht pba_509.038 achten zu dürfen glaubt? Das auf die gütliche oder gewaltsame Beugung pba_509.039 dieses Sinnes des Helden gerichtete Gegenspiel des Odysseus und pba_509.040 des Neoptolemos führt nun zu einer doppelten Peripetie, d. h. zu einer
pba_509.001 würde, wenn die Kunst des Dichters es nicht versteht, sie mit einer pba_509.002 inneren Wandlung der handelnden Personen in organische Verbindung zu pba_509.003 setzen. Auch hier kann eine Wandlung von Unkenntnis in Kenntnis pba_509.004 vorgehen, von Befangenheit in Klarheit des Sinns, und die berichtigende pba_509.005 Auflösung einer jeden Hamartie ist eine solche enthüllende Wandlung. pba_509.006 Jn der That erreicht keine dramatische Wirkung die kathartische Kraft pba_509.007 einer solchen Wandlung, wenn sie aus dem Kerne der Handlung hervorgehend pba_509.008 mit siegender Gewalt das schwer herabhängende, drohende Gewölk pba_509.009 des Schicksals zerteilt. Was könnte in dieser Beziehung sich mit pba_509.010 dem Schlußakte von Goethes „Jphigenia“ vergleichen? „Alle menschlichen pba_509.011 Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit,“ so faßte der Meister selbst pba_509.012 das Wesen jener Wirkung in Worte; und was dort dem Fluche eines pba_509.013 ganzen Geschlechtes gegenüber die leuchtende Reinheit einer fleckenlosen pba_509.014 Jungfrau vollbringt, das bewirkt minder grausigem Geschick gegenüber pba_509.015 die Umwandlung der Hamartie im Gemüte des Handelnden zur Phronesis, pba_509.016 zur Klarheit und Richtigkeit des Sinns.
pba_509.017 Hiervon ist der Philoktet des Sophokles ein unvergleichliches Beispiel. pba_509.018 Freilich wird die „Wandlung“ seines unbeugsam trotzigen Sinnes pba_509.019 durch eine unmittelbare „Enthüllung“ des göttlichen Ratschlusses entschieden. pba_509.020 Herakles verkündet, auf einer Wolke herabschwebend, den Willen pba_509.021 des Zeus, und „freudig gehorcht“ der Held dem Rufe des göttlichen pba_509.022 Freundes. Aber mit welcher Meisterschaft hat der Dichter diese scheinbar pba_509.023 gewaltsame und willkürliche Lösung vorbereitet, das unmittelbare pba_509.024 Eingreifen des Gottes in die unlösbar erscheinende Verwickelung und pba_509.025 die anscheinend plötzliche und unmotivierte Sinnesänderung des bisher pba_509.026 durch nichts zu bewegenden Helden!
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/527>, abgerufen am 25.11.2024.
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