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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Denn Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen pba_503.002
Jm Leben: doch sie dauert über ihren Tod.
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Mit vollster Deutlichkeit hat der Dichter vom Anbeginn die Handlung pba_503.004
auf diese Entscheidung gestellt: ob die Eusebeia, die fromme Scheu pba_503.005
vor dem Schluß der Götter und die Ergebung in ihren Willen, zur pba_503.006
Geltung gelangt oder der entgegenstehende Trotz, das Mißtrauen und pba_503.007
die Erbitterung gegen das Geschick die Oberhand behalten. "Jnnig pba_503.008
jammert des Mannes mich," singt der Chor, "den kein menschliches pba_503.009
Auge, das seiner hütet und wacht, erquickt, wie er ewig allein, ach! am pba_503.010
wildwühlenden Schmerze krankt und not leidet an allem, was heischt des

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Philoktet: V. 1140-1445 pba_503.012
touto d' ennoeisth', otan pba_503.013
porthete gaian, eusebein ta pros theous; pba_503.014
os talla panta deuter' egeitai pater pba_503.015
Zeus; e gar eusebeia sunthneskei brotois pba_503.016
kan zosi kan thanosin, ouk apollutai.
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Der für das ganze Stück hochbedeutsame Schluß der Stelle ist bei den Herausgebern pba_503.018
sinnentstellend interpunktiert, es gelten daher V. 1444 und 45 als unecht oder pba_503.019
werden durch Hinzufügung einer Negation emendiert, deren der gewöhnliche Text allerdings pba_503.020
bedarf, um überhaupt einen notdürftigen Sinn zu geben. Also statt: pba_503.021
e gar eusebeia sunthneskei brotois; pba_503.022
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schreibt man o u gar eusebeia. So übersetzt auch Donner: pba_503.024
"Die Götterfurcht stirbt mit den Menschen nicht dahin; pba_503.025
Sie leben oder sterben, sie blüht unverwelkt."
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Das wäre eine schwächliche Mahnung des Herakles, die den starren Philoktet pba_503.027
nur durch den Hinweis auf die segensreiche Frucht der guten That zu beugen suchte. pba_503.028
Die ungewöhnliche Verbindung, in der Sophokles das Verbum sunthneskein gebraucht pba_503.029
hat, ist dem Verständnis hinderlich gewesen; es heißt "vereint, zugleich sterben" (wie pba_503.030
bei Äschylus, Choe: 979), wobei also, wenn eben weiter nichts ausgedrückt werden soll, pba_503.031
als daß der Tod des einen notwendig mit dem des andern verbunden ist, es gleich pba_503.032
gilt, welcher von beiden als Subjekt und welcher im Dativ genannt wird: A. stirbt pba_503.033
mit B. zugleich oder B. mit A. pba_503.034
Nun hat Sophokles statt zu sagen "die Menschen gehen zu Grunde mit dem pba_503.035
Aufhören der Götterfurcht", "sie sterben zugleich mit der Götterfurcht dahin, auch wenn pba_503.036
sie fortleben", "ein solches Leben ist nur ein Scheinleben", mit höchstem Nachdruck sich pba_503.037
so ausgedrückt: "das Absterben der Götterfurcht ist verbunden mit dem Absterben der pba_503.038
Menschen, mögen sie immerhin noch am Leben bleiben", "sobald sie stirbt, sterben pba_503.039
mit ihr
die Menschen dahin, auch wenn sie leben", wie dem Philoktet selbst auf Lemnos pba_503.040
ein solches Los lebendigen Todes zugefallen war; "Tod der Götterfurcht ist Tod pba_503.041
der Sterblichen im Leben". Der griechische Dichter hat dem einfachen Verbum die pba_503.042
Prägnanz erteilt, dieses hypothetische Verhältnis auszudrücken, wofür wir der Umschreibung pba_503.043
bedürfen: "die Götterfurcht stirbt nicht ab, ohne daß nicht der Mensch zugleich pba_503.044
mit abstürbe
".
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Denn Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen pba_503.002
Jm Leben: doch sie dauert über ihren Tod.
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pba_503.003
Mit vollster Deutlichkeit hat der Dichter vom Anbeginn die Handlung pba_503.004
auf diese Entscheidung gestellt: ob die Eusebeia, die fromme Scheu pba_503.005
vor dem Schluß der Götter und die Ergebung in ihren Willen, zur pba_503.006
Geltung gelangt oder der entgegenstehende Trotz, das Mißtrauen und pba_503.007
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jammert des Mannes mich,“ singt der Chor, „den kein menschliches pba_503.009
Auge, das seiner hütet und wacht, erquickt, wie er ewig allein, ach! am pba_503.010
wildwühlenden Schmerze krankt und not leidet an allem, was heischt des

1 pba_503.011
Philoktet: V. 1140–1445 pba_503.012
τοῦτο δ' ἐννοεῖσθ', ὅταν pba_503.013
πορθῆτε γαῖαν, εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς· pba_503.014
ὡς τἄλλα πάντα δεύτερ' ἡγεῖται πατήρ pba_503.015
Ζεῦς· ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς pba_503.016
κἄν ζῶσι κἄν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται.
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Der für das ganze Stück hochbedeutsame Schluß der Stelle ist bei den Herausgebern pba_503.018
sinnentstellend interpunktiert, es gelten daher V. 1444 und 45 als unecht oder pba_503.019
werden durch Hinzufügung einer Negation emendiert, deren der gewöhnliche Text allerdings pba_503.020
bedarf, um überhaupt einen notdürftigen Sinn zu geben. Also statt: pba_503.021
ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς· pba_503.022
κ\̓αν ζῶσι κ\̓αν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται.
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schreibt man ο ὐ γὰρ εὐσέβεια. So übersetzt auch Donner: pba_503.024
„Die Götterfurcht stirbt mit den Menschen nicht dahin; pba_503.025
Sie leben oder sterben, sie blüht unverwelkt.“
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Das wäre eine schwächliche Mahnung des Herakles, die den starren Philoktet pba_503.027
nur durch den Hinweis auf die segensreiche Frucht der guten That zu beugen suchte. pba_503.028
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[503/0521] pba_503.001 Denn Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen pba_503.002 Jm Leben: doch sie dauert über ihren Tod. 1 pba_503.003 Mit vollster Deutlichkeit hat der Dichter vom Anbeginn die Handlung pba_503.004 auf diese Entscheidung gestellt: ob die Eusebeia, die fromme Scheu pba_503.005 vor dem Schluß der Götter und die Ergebung in ihren Willen, zur pba_503.006 Geltung gelangt oder der entgegenstehende Trotz, das Mißtrauen und pba_503.007 die Erbitterung gegen das Geschick die Oberhand behalten. „Jnnig pba_503.008 jammert des Mannes mich,“ singt der Chor, „den kein menschliches pba_503.009 Auge, das seiner hütet und wacht, erquickt, wie er ewig allein, ach! am pba_503.010 wildwühlenden Schmerze krankt und not leidet an allem, was heischt des 1 pba_503.011 Philoktet: V. 1140–1445 pba_503.012 τοῦτο δ' ἐννοεῖσθ', ὅταν pba_503.013 πορθῆτε γαῖαν, εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς· pba_503.014 ὡς τἄλλα πάντα δεύτερ' ἡγεῖται πατήρ pba_503.015 Ζεῦς· ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς pba_503.016 κἄν ζῶσι κἄν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται. pba_503.017 Der für das ganze Stück hochbedeutsame Schluß der Stelle ist bei den Herausgebern pba_503.018 sinnentstellend interpunktiert, es gelten daher V. 1444 und 45 als unecht oder pba_503.019 werden durch Hinzufügung einer Negation emendiert, deren der gewöhnliche Text allerdings pba_503.020 bedarf, um überhaupt einen notdürftigen Sinn zu geben. Also statt: pba_503.021 ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς· pba_503.022 κ\̓αν ζῶσι κ\̓αν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται. pba_503.023 schreibt man ο ὐ γὰρ εὐσέβεια. So übersetzt auch Donner: pba_503.024 „Die Götterfurcht stirbt mit den Menschen nicht dahin; pba_503.025 Sie leben oder sterben, sie blüht unverwelkt.“ pba_503.026 Das wäre eine schwächliche Mahnung des Herakles, die den starren Philoktet pba_503.027 nur durch den Hinweis auf die segensreiche Frucht der guten That zu beugen suchte. pba_503.028 Die ungewöhnliche Verbindung, in der Sophokles das Verbum συνθνήσκειν gebraucht pba_503.029 hat, ist dem Verständnis hinderlich gewesen; es heißt „vereint, zugleich sterben“ (wie pba_503.030 bei Äschylus, Choe: 979), wobei also, wenn eben weiter nichts ausgedrückt werden soll, pba_503.031 als daß der Tod des einen notwendig mit dem des andern verbunden ist, es gleich pba_503.032 gilt, welcher von beiden als Subjekt und welcher im Dativ genannt wird: A. stirbt pba_503.033 mit B. zugleich oder B. mit A. pba_503.034 Nun hat Sophokles statt zu sagen „die Menschen gehen zu Grunde mit dem pba_503.035 Aufhören der Götterfurcht“, „sie sterben zugleich mit der Götterfurcht dahin, auch wenn pba_503.036 sie fortleben“, „ein solches Leben ist nur ein Scheinleben“, mit höchstem Nachdruck sich pba_503.037 so ausgedrückt: „das Absterben der Götterfurcht ist verbunden mit dem Absterben der pba_503.038 Menschen, mögen sie immerhin noch am Leben bleiben“, „sobald sie stirbt, sterben pba_503.039 mit ihr die Menschen dahin, auch wenn sie leben“, wie dem Philoktet selbst auf Lemnos pba_503.040 ein solches Los lebendigen Todes zugefallen war; „Tod der Götterfurcht ist Tod pba_503.041 der Sterblichen im Leben“. Der griechische Dichter hat dem einfachen Verbum die pba_503.042 Prägnanz erteilt, dieses hypothetische Verhältnis auszudrücken, wofür wir der Umschreibung pba_503.043 bedürfen: „die Götterfurcht stirbt nicht ab, ohne daß nicht der Mensch zugleich pba_503.044 mit abstürbe“.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/521>, abgerufen am 22.11.2024.