pba_500.001 tung zu erweitern, die Bereitschaft dazu in uns zu erhöhen. Das trifft pba_500.002 schon für unser Verhältnis zur Tierwelt zu: es genügt, daß wir ein pba_500.003 Tier, das wir vielleicht sonst verabscheuen und zu vernichten geneigt pba_500.004 sind, leiden sehen, um die Teilnahme für dasselbe in uns zu erzeugen, pba_500.005 uns in ihm das mitlebende Geschöpf erkennen zu lassen, unsere achtsame pba_500.006 Aufmerksamkeit auf die Vorzüge seines Baues, auf den Wert seiner pba_500.007 Existenz zu lenken. Um wie viel mehr trifft das alles bei menschlichen pba_500.008 Leiden zu! Schmerzlich trifft uns der Anblick des Leidens und versetzt uns pba_500.009 in eine lebhafte Unruhe, die dem Vorgange unsere ganze Energie zuwendet. pba_500.010 Sogleich nun drängt sich der edleren Seele -- wie denn Aristoteles pba_500.011 das Mitleid ein Pathos ethous khrestou, die Empfindung "eines gutgearteten pba_500.012 Gemüts" nennt -- die Frage auf, ist das Leiden verdient pba_500.013 oder leidet der Unglückliche weit über Verdienst? und damit zugleich die pba_500.014 Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Unglücksschicksals zu der allgemein pba_500.015 geltenden Gesetzmäßigkeit desselben, unter der wir alle gleicherweise pba_500.016 stehen. Zeigt uns nun die vollständige Nachahmung der Handlung pba_500.017 das Leiden als ein unverdientes, bewährt sich die Kraft des Leidenden pba_500.018 im Unglück, so erwächst aus dem dadurch erregten reinen Mitleid pba_500.019 zugleich die Achtung und die Liebe für den Leidenden. Wenn aber pba_500.020 nach der Natur der menschlichen Verhältnisse, je genauer wir beobachten pba_500.021 und je vollständiger uns das Material dazu geboten wird, wir desto pba_500.022 mehr Milderungsgründe entdecken werden, selbst da, wo scheinbar verschuldetes pba_500.023 Leiden uns begegnet, so ist nach alledem das richtige Mitleid, pba_500.024 statt als Voraussetzung die Liebe zu seinem Gegenstande zu haben, vielmehr pba_500.025 eine der wesentlichsten Kräfte, um dieselbe hervorzubringen.pba_500.026 Dieselbe Wirkung aber, die das reine Mitleid auf unser pba_500.027 Verhältnis zu den Nebenmenschen ausübt, nämlich die Achtung vor denselben, pba_500.028 die Liebe zu ihnen zu erhöhen, bringt die reine Empfindung der pba_500.029 Furcht in unserem Verhältnis zur Gottheit hervor, und zwar als unmittelbare, pba_500.030 ästhetische Bewegung, nicht als das Resultat einer moralischen pba_500.031 Erwägung und Entschließung.
pba_500.032 Die Herstellung dieser reinen Mitleid- und Furchtempfindung pba_500.033 setzt sich die Tragödie zum Ziel; während die beiden Empfindungen, pba_500.034 sobald sie fehlerhaft beschaffen sind, sich gegenseitig Eintrag thun, ja pba_500.035 unter Umständen einander geradezu ausschließen, ist ihr Verhältnis, sobald pba_500.036 sie in reiner Gestalt auftreten dieses, daß sie notwendig und untrennbar pba_500.037 miteinander verbunden sind: die Nachahmung eines Leidensschicksals, pba_500.038 die das reine Mitleid erweckt, wird zugleich vermögend sein, pba_500.039 auch die reine Furcht zu erzeugen; umgekehrt wird ein Schicksal, das pba_500.040 uns mit dieser Furcht erfüllt, auch das Mitleid in seiner reinsten Ge-
pba_500.001 tung zu erweitern, die Bereitschaft dazu in uns zu erhöhen. Das trifft pba_500.002 schon für unser Verhältnis zur Tierwelt zu: es genügt, daß wir ein pba_500.003 Tier, das wir vielleicht sonst verabscheuen und zu vernichten geneigt pba_500.004 sind, leiden sehen, um die Teilnahme für dasselbe in uns zu erzeugen, pba_500.005 uns in ihm das mitlebende Geschöpf erkennen zu lassen, unsere achtsame pba_500.006 Aufmerksamkeit auf die Vorzüge seines Baues, auf den Wert seiner pba_500.007 Existenz zu lenken. Um wie viel mehr trifft das alles bei menschlichen pba_500.008 Leiden zu! Schmerzlich trifft uns der Anblick des Leidens und versetzt uns pba_500.009 in eine lebhafte Unruhe, die dem Vorgange unsere ganze Energie zuwendet. pba_500.010 Sogleich nun drängt sich der edleren Seele — wie denn Aristoteles pba_500.011 das Mitleid ein Pathos ἤθους χρηστοῦ, die Empfindung „eines gutgearteten pba_500.012 Gemüts“ nennt — die Frage auf, ist das Leiden verdient pba_500.013 oder leidet der Unglückliche weit über Verdienst? und damit zugleich die pba_500.014 Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Unglücksschicksals zu der allgemein pba_500.015 geltenden Gesetzmäßigkeit desselben, unter der wir alle gleicherweise pba_500.016 stehen. Zeigt uns nun die vollständige Nachahmung der Handlung pba_500.017 das Leiden als ein unverdientes, bewährt sich die Kraft des Leidenden pba_500.018 im Unglück, so erwächst aus dem dadurch erregten reinen Mitleid pba_500.019 zugleich die Achtung und die Liebe für den Leidenden. Wenn aber pba_500.020 nach der Natur der menschlichen Verhältnisse, je genauer wir beobachten pba_500.021 und je vollständiger uns das Material dazu geboten wird, wir desto pba_500.022 mehr Milderungsgründe entdecken werden, selbst da, wo scheinbar verschuldetes pba_500.023 Leiden uns begegnet, so ist nach alledem das richtige Mitleid, pba_500.024 statt als Voraussetzung die Liebe zu seinem Gegenstande zu haben, vielmehr pba_500.025 eine der wesentlichsten Kräfte, um dieselbe hervorzubringen.pba_500.026 Dieselbe Wirkung aber, die das reine Mitleid auf unser pba_500.027 Verhältnis zu den Nebenmenschen ausübt, nämlich die Achtung vor denselben, pba_500.028 die Liebe zu ihnen zu erhöhen, bringt die reine Empfindung der pba_500.029 Furcht in unserem Verhältnis zur Gottheit hervor, und zwar als unmittelbare, pba_500.030 ästhetische Bewegung, nicht als das Resultat einer moralischen pba_500.031 Erwägung und Entschließung.
pba_500.032 Die Herstellung dieser reinen Mitleid- und Furchtempfindung pba_500.033 setzt sich die Tragödie zum Ziel; während die beiden Empfindungen, pba_500.034 sobald sie fehlerhaft beschaffen sind, sich gegenseitig Eintrag thun, ja pba_500.035 unter Umständen einander geradezu ausschließen, ist ihr Verhältnis, sobald pba_500.036 sie in reiner Gestalt auftreten dieses, daß sie notwendig und untrennbar pba_500.037 miteinander verbunden sind: die Nachahmung eines Leidensschicksals, pba_500.038 die das reine Mitleid erweckt, wird zugleich vermögend sein, pba_500.039 auch die reine Furcht zu erzeugen; umgekehrt wird ein Schicksal, das pba_500.040 uns mit dieser Furcht erfüllt, auch das Mitleid in seiner reinsten Ge-
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tung zu erweitern, die Bereitschaft dazu in uns zu erhöhen. Das trifft pba_500.002
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Gemüts“ nennt — die Frage auf, ist das Leiden verdient pba_500.013
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/518>, abgerufen am 22.11.2024.
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