pba_477.001 und in welcher unübertrefflichen Schönheit der Meister der antiken pba_477.002 Tragödie es verstanden hat, den Sturm der tragischen Empfindungen, pba_477.003 indem er die Kraft der einen gegen die andre setzt, in seiner pba_477.004 Übergewalt sich brechen zu lassen, um ihrer Läuterung, Klärung, kathartischen pba_477.005 Beschwichtigung Raum zu verschaffen. Mit gewaltiger Wucht, die pba_477.006 durch jedes kommentierende Wort nur abgeschwächt werden würde, ist pba_477.007 in beiden Stücken die mächtige Stimme des Chores für diesen Zweck pba_477.008 verwendet. Was aber das aristotelische Wort von dem Gleichmaß,pba_477.009 der Symmetrie, der Furcht und des Mitleids zu bedeuten hat, pba_477.010 das läßt die wundervolle Weisheit erkennen, mit der Sophokles den pba_477.011 Schluß der beiden Tragödien gestaltet hat.
pba_477.012 "Ödipus Tyrannos" ist die Tragödie der Furcht, der unter pba_477.013 den neueren nur Shakespeares "Lear" zu vergleichen ist. Mit immer pba_477.014 gräßlicheren, entsetzlicheren Schlägen sehen wir die Wut des Geschickes pba_477.015 sich entladen, und als es seine ganze Kraft erschöpft hat, da erfährt es durch pba_477.016 die grimmige, sich gegen sich selbst kehrende Verzweiflung des Getroffenen pba_477.017 noch eine weitere, fürchterliche Steigerung. So weit ist alle höchste pba_477.018 Kunst des griechischen wie des britischen Dichters darauf gewandt, das pba_477.019 überwältigende starre Entsetzen zur tragischen Furcht zu läutern und zu pba_477.020 erheben. Jn dieser Furcht ist freilich das Mitleid notwendig mit eingeschlossen, pba_477.021 aber gleichsam latent, gebunden und überwogen durch die pba_477.022 Schauer, mit denen der Anblick der Schicksalsallgewalt von Angesicht pba_477.023 zu Angesicht die Empfindung ganz hinnimmt. So hat denn der pba_477.024 Dichter die letzte Scene bestimmt diese Starrheit zu lösen und dem pba_477.025 reichen Erguß schmelzenden Mitleids ein breites Bett zu bereiten. Die pba_477.026 Scene, wie dem blinden Ödipus die beiden Töchter zugeführt werden: pba_477.027 "Jhr Götter! Hör' ich meine zwei Geliebten nicht in Thränen schluchzen?", pba_477.028 wie sie im tiefsten Jnnern die höchste Kraft liebenden Mitgefühls erweckt, pba_477.029 läßt sich wieder nur mit jener, bei aller ihrer Herbigkeit dennoch pba_477.030 wunderbar versöhnenden, Schlußscene des Lear vergleichen, da der greise pba_477.031 König, die Tochter Cordelia tot in den Armen tragend, auf der Bühne pba_477.032 erscheint und ihr den Spiegel vorhält um zu prüfen, ob noch Leben in pba_477.033 ihr sei: "Die Feder regte sich, sie lebt! O lebt sie, so ist's ein Glück, pba_477.034 das allen Kummer tilgt, den ich jemals gefühlt."
pba_477.035 Umgekehrt ist "Ödipus auf Kolonos" die Tragödie des Mitleids. pba_477.036 Der alternde König, aus der Heimat durch die eigenen Söhne pba_477.037 verjagt, im Bettlergewande umherirrend, nur von der Tochter geleitet, pba_477.038 nirgends eine Ruhestätte findend, nun am letzten Ziele noch von den pba_477.039 Bewohnern des ihm verheißenen Asyls mit Abscheu fortgescheucht, von pba_477.040 Keron bedroht, zuletzt noch der Töchter beraubt, -- das ist ein Stoff,
pba_477.001 und in welcher unübertrefflichen Schönheit der Meister der antiken pba_477.002 Tragödie es verstanden hat, den Sturm der tragischen Empfindungen, pba_477.003 indem er die Kraft der einen gegen die andre setzt, in seiner pba_477.004 Übergewalt sich brechen zu lassen, um ihrer Läuterung, Klärung, kathartischen pba_477.005 Beschwichtigung Raum zu verschaffen. Mit gewaltiger Wucht, die pba_477.006 durch jedes kommentierende Wort nur abgeschwächt werden würde, ist pba_477.007 in beiden Stücken die mächtige Stimme des Chores für diesen Zweck pba_477.008 verwendet. Was aber das aristotelische Wort von dem Gleichmaß,pba_477.009 der Symmetrie, der Furcht und des Mitleids zu bedeuten hat, pba_477.010 das läßt die wundervolle Weisheit erkennen, mit der Sophokles den pba_477.011 Schluß der beiden Tragödien gestaltet hat.
pba_477.012 „Ödipus Tyrannos“ ist die Tragödie der Furcht, der unter pba_477.013 den neueren nur Shakespeares „Lear“ zu vergleichen ist. Mit immer pba_477.014 gräßlicheren, entsetzlicheren Schlägen sehen wir die Wut des Geschickes pba_477.015 sich entladen, und als es seine ganze Kraft erschöpft hat, da erfährt es durch pba_477.016 die grimmige, sich gegen sich selbst kehrende Verzweiflung des Getroffenen pba_477.017 noch eine weitere, fürchterliche Steigerung. So weit ist alle höchste pba_477.018 Kunst des griechischen wie des britischen Dichters darauf gewandt, das pba_477.019 überwältigende starre Entsetzen zur tragischen Furcht zu läutern und zu pba_477.020 erheben. Jn dieser Furcht ist freilich das Mitleid notwendig mit eingeschlossen, pba_477.021 aber gleichsam latent, gebunden und überwogen durch die pba_477.022 Schauer, mit denen der Anblick der Schicksalsallgewalt von Angesicht pba_477.023 zu Angesicht die Empfindung ganz hinnimmt. So hat denn der pba_477.024 Dichter die letzte Scene bestimmt diese Starrheit zu lösen und dem pba_477.025 reichen Erguß schmelzenden Mitleids ein breites Bett zu bereiten. Die pba_477.026 Scene, wie dem blinden Ödipus die beiden Töchter zugeführt werden: pba_477.027 „Jhr Götter! Hör' ich meine zwei Geliebten nicht in Thränen schluchzen?“, pba_477.028 wie sie im tiefsten Jnnern die höchste Kraft liebenden Mitgefühls erweckt, pba_477.029 läßt sich wieder nur mit jener, bei aller ihrer Herbigkeit dennoch pba_477.030 wunderbar versöhnenden, Schlußscene des Lear vergleichen, da der greise pba_477.031 König, die Tochter Cordelia tot in den Armen tragend, auf der Bühne pba_477.032 erscheint und ihr den Spiegel vorhält um zu prüfen, ob noch Leben in pba_477.033 ihr sei: „Die Feder regte sich, sie lebt! O lebt sie, so ist's ein Glück, pba_477.034 das allen Kummer tilgt, den ich jemals gefühlt.“
pba_477.035 Umgekehrt ist „Ödipus auf Kolonos“ die Tragödie des Mitleids. pba_477.036 Der alternde König, aus der Heimat durch die eigenen Söhne pba_477.037 verjagt, im Bettlergewande umherirrend, nur von der Tochter geleitet, pba_477.038 nirgends eine Ruhestätte findend, nun am letzten Ziele noch von den pba_477.039 Bewohnern des ihm verheißenen Asyls mit Abscheu fortgescheucht, von pba_477.040 Keron bedroht, zuletzt noch der Töchter beraubt, — das ist ein Stoff,
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/495>, abgerufen am 25.11.2024.
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