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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002
Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003
Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004
Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch pba_475.005
Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war?

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Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.):

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toiauta mentoi kautos eiseben kaka, pba_475.008
theon agonton. ois ego oude ten patros pba_475.009
psukhen an oipai zosan anteipein emoi. pba_475.010
"Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011
Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012
Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht."

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Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den pba_475.014
tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.):

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su d' eis ekeina, me ta nun, aposkopei, pba_475.016
patroa kai metroa pemath' apathes; pba_475.017
k\an keina leusses, oid' ego, gnosei kakou pba_475.018
thumou teleuten, os kake prosgignetai. pba_475.019
"Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020
Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021
Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022
Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt."

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Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, pba_475.024
aber freilich schwer zu verbessern. "Schlimmer Zorn" gibt in Anwendung pba_475.025
auf die Geschichte des Laios keinen Sinn; das griechische pba_475.026
kakos thumos, wofür kurz zuvor thumos oxus gesagt ist, bezeichnet pba_475.027
das Verhängnisvolle des "raschen Sinnes", "vorschnell entschlossener, pba_475.028
leidenschaftlich-jäher Gemütsart
", die menschlichem pba_475.029
und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch "schneller pba_475.030
Mut
" ist der "Fehler" (amartia) des Ödipus, wie er das Verderben pba_475.031
seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs pba_475.032
gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze pba_475.033
jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling pba_475.034
mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin pba_475.035
Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, pba_475.036
nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung pba_475.037
mit dem Worte des Kreon im "König Ödipus":

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ai de toiaitai phuseis pba_475.039
autais dikaios eisin algistai pherein. pba_475.040
"Solcher Art Naturen sind pba_475.041
Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual."
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Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002
Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003
Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004
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Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war?

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Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.):

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„Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011
Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012
Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“

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Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den pba_475.014
tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.):

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σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει, pba_475.016
πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες· pba_475.017
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θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται. pba_475.019
„Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020
Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021
Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022
Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt.“

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Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, pba_475.024
aber freilich schwer zu verbessern. „Schlimmer Zorn“ gibt in Anwendung pba_475.025
auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische pba_475.026
κακὸς θυμός, wofür kurz zuvor θυμὸς ὀξύς gesagt ist, bezeichnet pba_475.027
das Verhängnisvolle des „raschen Sinnes“, „vorschnell entschlossener, pba_475.028
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und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „schneller pba_475.030
Mut
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seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs pba_475.032
gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze pba_475.033
jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling pba_475.034
mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin pba_475.035
Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, pba_475.036
nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung pba_475.037
mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“:

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αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν. pba_475.040
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[475/0493] pba_475.001 Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002 Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003 Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004 Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch pba_475.005 Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war? pba_475.006 Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.): pba_475.007 τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά, pba_475.008 θεῶν ἀγόντων. οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς pba_475.009 ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί. pba_475.010 „Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011 Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012 Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“ pba_475.013 Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den pba_475.014 tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.): pba_475.015 σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει, pba_475.016 πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες· pba_475.017 κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ pba_475.018 θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται. pba_475.019 „Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020 Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021 Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022 Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt.“ pba_475.023 Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, pba_475.024 aber freilich schwer zu verbessern. „Schlimmer Zorn“ gibt in Anwendung pba_475.025 auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische pba_475.026 κακὸς θυμός, wofür kurz zuvor θυμὸς ὀξύς gesagt ist, bezeichnet pba_475.027 das Verhängnisvolle des „raschen Sinnes“, „vorschnell entschlossener, pba_475.028 leidenschaftlich-jäher Gemütsart“, die menschlichem pba_475.029 und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „schneller pba_475.030 Mut“ ist der „Fehler“ (ἁμαρτία) des Ödipus, wie er das Verderben pba_475.031 seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs pba_475.032 gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze pba_475.033 jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling pba_475.034 mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin pba_475.035 Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, pba_475.036 nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung pba_475.037 mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“: pba_475.038 αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις pba_475.039 αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν. pba_475.040 „Solcher Art Naturen sind pba_475.041 Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/493>, abgerufen am 25.11.2024.