Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_464.001 pba_464.004 Nie geboren zu werden, ist pba_464.007 Weit das Beste; doch wenn du lebst, pba_464.008 Jst das Zweite, dich schnell dahin pba_464.009 Wieder zu wenden, woher du kamest. pba_464.010 Denn entschwand erst die Jugendzeit,1 pba_464.011 Leichten, thörichten Sinnes voll, pba_464.012 Wer drang weiter noch vielgeplagt, pba_464.013 Wer, nicht mitten in Drangsalsnot? pba_464.014 Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf, pba_464.015 Neid und Haß: am düstern Ende pba_464.016 Naht sich verachtet pba_464.017 Öde, kraftlos, aller Freude pba_464.018 Leer, das Alter, dem sich jedes pba_464.019 Wehe des Weh's gesellt hat. pba_464.020 Der Chor: pba_464.027
Hört, ihr geliebten edlen Kinder: pba_464.028 Was ein Gott zum Heil gefügt, pba_464.029 Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen. 1 pba_464.030
Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031 Os eut' \an to neon pare pba_464.032 pba_464.035kouphas aphrosunas pheron, pba_464.033 tis plagkhthe polumokhthos exo, pba_464.034 tis ou kamaton eni; Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036 und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. pare ist pba_464.037 von pariem abzuleiten = "nachließ"; das exo des dritten Verses im adverbialen pba_464.038 Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) "darüber hinaus" mit plagkhthe zu verbinden. pba_464.039 Also höchst ausdrucksvoll: "Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040 wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w." Die Verse sind pba_464.041 nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen pba_464.042 hochpoetischen Ausdruck verliehen. pba_464.001 pba_464.004 Nie geboren zu werden, ist pba_464.007 Weit das Beste; doch wenn du lebst, pba_464.008 Jst das Zweite, dich schnell dahin pba_464.009 Wieder zu wenden, woher du kamest. pba_464.010 Denn entschwand erst die Jugendzeit,1 pba_464.011 Leichten, thörichten Sinnes voll, pba_464.012 Wer drang weiter noch vielgeplagt, pba_464.013 Wer, nicht mitten in Drangsalsnot? pba_464.014 Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf, pba_464.015 Neid und Haß: am düstern Ende pba_464.016 Naht sich verachtet pba_464.017 Öde, kraftlos, aller Freude pba_464.018 Leer, das Alter, dem sich jedes pba_464.019 Wehe des Weh's gesellt hat. pba_464.020 Der Chor: pba_464.027
Hört, ihr geliebten edlen Kinder: pba_464.028 Was ein Gott zum Heil gefügt, pba_464.029 Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen. 1 pba_464.030
Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031 Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ pba_464.032 pba_464.035κούφας ἀφροσύνας φέρον, pba_464.033 τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ, pba_464.034 τίς οὐ καμάτων ἔνι; Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036 und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. παρῇ ist pba_464.037 von παρίημ abzuleiten = „nachließ“; das ἔξω des dritten Verses im adverbialen pba_464.038 Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „darüber hinaus“ mit πλάγχθη zu verbinden. pba_464.039 Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040 wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w.“ Die Verse sind pba_464.041 nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen pba_464.042 hochpoetischen Ausdruck verliehen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0482" n="464"/><lb n="pba_464.001"/> die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über <lb n="pba_464.002"/> Selbstsucht und Schwäche hoch erhabene <hi rendition="#g">Furcht</hi> die Besonnenheit des <lb n="pba_464.003"/> Sinnes nähren und das rechte Maß der Haltung befestigen.</p> <p><lb n="pba_464.004"/> Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen, <lb n="pba_464.005"/> wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus:</p> <lb n="pba_464.006"/> <lg> <l>Nie geboren zu werden, ist</l> <lb n="pba_464.007"/> <l>Weit das Beste; doch wenn du lebst,</l> <lb n="pba_464.008"/> <l>Jst das Zweite, dich schnell dahin</l> <lb n="pba_464.009"/> <l>Wieder zu wenden, woher du kamest.</l> <lb n="pba_464.010"/> <l>Denn entschwand erst die Jugendzeit,</l> <note xml:id="pba_464_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_464.030"/> Oedip. Col. v. 1230 ff. <lb n="pba_464.031"/> <lg><l><foreign xml:lang="grc">Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ</foreign></l><lb n="pba_464.032"/><l><foreign xml:lang="grc">κούφας ἀφροσύνας φέρον</foreign>,</l><lb n="pba_464.033"/><l><foreign xml:lang="grc">τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ</foreign>,</l><lb n="pba_464.034"/><l><foreign xml:lang="grc">τίς οὐ καμάτων ἔνι</foreign><hi rendition="#i">;</hi></l></lg> <lb n="pba_464.035"/> Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt <lb n="pba_464.036"/> und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. <foreign xml:lang="grc">παρῇ</foreign> ist <lb n="pba_464.037"/> von <foreign xml:lang="grc">παρίημ</foreign> abzuleiten = „<hi rendition="#g">nachließ</hi>“; das <foreign xml:lang="grc">ἔξω</foreign> des dritten Verses im adverbialen <lb n="pba_464.038"/> Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „<hi rendition="#g">darüber hinaus</hi>“ mit <foreign xml:lang="grc">πλάγχθη</foreign> zu verbinden. <lb n="pba_464.039"/> Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend <hi rendition="#g">nachließ (ebbte, entschwand</hi>), <lb n="pba_464.040"/> wer <hi rendition="#g">wurde darüber hinaus verschlagen</hi> u. s. w.“ Die Verse sind <lb n="pba_464.041"/> nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen <lb n="pba_464.042"/> hochpoetischen Ausdruck verliehen.</note> <lb n="pba_464.011"/> <l>Leichten, thörichten Sinnes voll,</l> <lb n="pba_464.012"/> <l>Wer drang weiter noch vielgeplagt,</l> <lb n="pba_464.013"/> <l>Wer, nicht mitten in Drangsalsnot?</l> <lb n="pba_464.014"/> <l>Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf,</l> <lb n="pba_464.015"/> <l>Neid und Haß: am düstern Ende</l> <lb n="pba_464.016"/> <l>Naht sich verachtet</l> <lb n="pba_464.017"/> <l>Öde, kraftlos, aller Freude</l> <lb n="pba_464.018"/> <l>Leer, das Alter, dem sich jedes</l> <lb n="pba_464.019"/> <l>Wehe des Weh's gesellt hat.</l> </lg> <p><lb n="pba_464.020"/> Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen <lb n="pba_464.021"/> Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn <lb n="pba_464.022"/> nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden <lb n="pba_464.023"/> des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter <lb n="pba_464.024"/> des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten <lb n="pba_464.025"/> Gleichgewicht (<foreign xml:lang="grc">συμμετρία</foreign>) verschmelzen:</p> <lb n="pba_464.026"/> <sp who="#CHO"> <speaker> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Chor</hi>:</hi> </speaker> <lb n="pba_464.027"/> <p>Hört, ihr geliebten edlen Kinder: <lb n="pba_464.028"/> Was ein Gott zum Heil gefügt, <lb n="pba_464.029"/> Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen.</p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [464/0482]
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die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über pba_464.002
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Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen, pba_464.005
wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus:
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Weit das Beste; doch wenn du lebst, pba_464.008
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Wieder zu wenden, woher du kamest. pba_464.010
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Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen pba_464.021
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nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden pba_464.023
des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter pba_464.024
des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten pba_464.025
Gleichgewicht (συμμετρία) verschmelzen:
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Der Chor: pba_464.027
Hört, ihr geliebten edlen Kinder: pba_464.028
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1 pba_464.030
Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031
Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ pba_464.032
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Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036
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Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040
wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w.“ Die Verse sind pba_464.041
nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen pba_464.042
hochpoetischen Ausdruck verliehen.
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Zitationshilfe: | Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/482>, abgerufen am 27.07.2024. |