pba_460.001 als ein einzelnes, zufälliges erscheinen lassen: ihm würde die Allgemeinheit pba_460.002 fehlen, wir fühlen uns demselben nicht ausgesetzt; obwohl pba_460.003 wir immerhin es bemitleiden werden, erregt es uns die Furcht nur pba_460.004 in geringerem Grade oder auch gar nicht. Ebenso werden alle solche pba_460.005 Singularitäten der Charaktere die tragische Kraft der Handlung pba_460.006 abschwächen, die das unverdiente Leiden aus einer gewissen Willkürpba_460.007 der Handelnden herleiten, statt daß wir es aus jenen unvermeidlichen pba_460.008 Schwächen fließen sehen, denen auf seine Weise ein jeder sich pba_460.009 ausgesetzt fühlt, so daß er, wenn auch nicht gerade dem vorgestellten pba_460.010 Leiden, so doch in dem Bilde desselben dem Leiden überhaupt pba_460.011 sich gleicherweise preisgegeben fühlt. Die geringste Beimischung pba_460.012 einer solchen Willkür, die uns den Schluß nahelegt, daß trotz allem, pba_460.013 was geschah, das schwere Leiden noch hätte vermieden werden können, pba_460.014 schwächt unsere Furcht ab, ja kann sie ganz aufheben, mögen wir pba_460.015 immerhin aus dem Charakter der Handelnden uns diese Willkür pba_460.016 vollkommen erklären können. Das Schicksal erhält damit, soweit pba_460.017 diese Willkür sich erstreckt, den Anstrich eines frei gewählten und verliert pba_460.018 seine Allgemeinheit.
pba_460.019 Nichts Verkehrteres kann es geben, als was von den Erklärern pba_460.020 über den Begriff der tragischen Furcht vorgebracht ist, von dem die pba_460.021 einen behaupten, daß er schlechtweg ein Unding sei, die andern, daß es pba_460.022 unmöglich zu ermitteln sei, wie Aristoteles sich denselben gedacht habe. pba_460.023 "Was müßte das für ein wahnwitziger Zuschauer sein," heißt es bei pba_460.024 dem einen,1 "der bei dem Anblicke oder bei dem Anhören der berühmten pba_460.025 Sophokleischen Tragödie ,König Ödipus' plötzlich von der Furcht ergriffen pba_460.026 würde, er selbst werde seinen Vater töten, seine Mutter heiraten pba_460.027 und schließlich sich die Augen ausbohren, oder einem seiner nächsten pba_460.028 Verwandten werde solches begegnen?" Oder wenn ganz ähnlich von pba_460.029 einem andern gesagt wird:2 "Es ist nun aber auch ganz unwidersprechlich, pba_460.030 daß die von der Tragödie anzuregende Furcht von der eigentlichen pba_460.031 durchaus verschieden ist. Die Tragödie kann uns nie und nimmer die pba_460.032 Vorstellung eines uns oder den Unsrigen wirklich und sicher nahe bevorstehenden pba_460.033 Unheils erregen!" Ob wir es uns so vorstellen oder nicht, pba_460.034 ist lediglich unsere Sache und kümmert die Tragödie gar nicht. Diese pba_460.035 hat in Bezug auf die Furcht weiter nichts zu thun, als uns die Vorstellung pba_460.036 eines schweren Schicksals überhaupt in der Weise pba_460.037 nahe zu führen, daß an die Stelle der Sicherheit das unruhige Gefühl
1pba_460.038 Reinkens: "Aristoteles über Kunst", 1870, S. 222.
2pba_460.039 Döring: "Kunstlehre des Aristoteles", 1876, S. 314.
pba_460.001 als ein einzelnes, zufälliges erscheinen lassen: ihm würde die Allgemeinheit pba_460.002 fehlen, wir fühlen uns demselben nicht ausgesetzt; obwohl pba_460.003 wir immerhin es bemitleiden werden, erregt es uns die Furcht nur pba_460.004 in geringerem Grade oder auch gar nicht. Ebenso werden alle solche pba_460.005 Singularitäten der Charaktere die tragische Kraft der Handlung pba_460.006 abschwächen, die das unverdiente Leiden aus einer gewissen Willkürpba_460.007 der Handelnden herleiten, statt daß wir es aus jenen unvermeidlichen pba_460.008 Schwächen fließen sehen, denen auf seine Weise ein jeder sich pba_460.009 ausgesetzt fühlt, so daß er, wenn auch nicht gerade dem vorgestellten pba_460.010 Leiden, so doch in dem Bilde desselben dem Leiden überhaupt pba_460.011 sich gleicherweise preisgegeben fühlt. Die geringste Beimischung pba_460.012 einer solchen Willkür, die uns den Schluß nahelegt, daß trotz allem, pba_460.013 was geschah, das schwere Leiden noch hätte vermieden werden können, pba_460.014 schwächt unsere Furcht ab, ja kann sie ganz aufheben, mögen wir pba_460.015 immerhin aus dem Charakter der Handelnden uns diese Willkür pba_460.016 vollkommen erklären können. Das Schicksal erhält damit, soweit pba_460.017 diese Willkür sich erstreckt, den Anstrich eines frei gewählten und verliert pba_460.018 seine Allgemeinheit.
pba_460.019 Nichts Verkehrteres kann es geben, als was von den Erklärern pba_460.020 über den Begriff der tragischen Furcht vorgebracht ist, von dem die pba_460.021 einen behaupten, daß er schlechtweg ein Unding sei, die andern, daß es pba_460.022 unmöglich zu ermitteln sei, wie Aristoteles sich denselben gedacht habe. pba_460.023 „Was müßte das für ein wahnwitziger Zuschauer sein,“ heißt es bei pba_460.024 dem einen,1 „der bei dem Anblicke oder bei dem Anhören der berühmten pba_460.025 Sophokleischen Tragödie ‚König Ödipus‘ plötzlich von der Furcht ergriffen pba_460.026 würde, er selbst werde seinen Vater töten, seine Mutter heiraten pba_460.027 und schließlich sich die Augen ausbohren, oder einem seiner nächsten pba_460.028 Verwandten werde solches begegnen?“ Oder wenn ganz ähnlich von pba_460.029 einem andern gesagt wird:2 „Es ist nun aber auch ganz unwidersprechlich, pba_460.030 daß die von der Tragödie anzuregende Furcht von der eigentlichen pba_460.031 durchaus verschieden ist. Die Tragödie kann uns nie und nimmer die pba_460.032 Vorstellung eines uns oder den Unsrigen wirklich und sicher nahe bevorstehenden pba_460.033 Unheils erregen!“ Ob wir es uns so vorstellen oder nicht, pba_460.034 ist lediglich unsere Sache und kümmert die Tragödie gar nicht. Diese pba_460.035 hat in Bezug auf die Furcht weiter nichts zu thun, als uns die Vorstellung pba_460.036 eines schweren Schicksals überhaupt in der Weise pba_460.037 nahe zu führen, daß an die Stelle der Sicherheit das unruhige Gefühl
1pba_460.038 Reinkens: „Aristoteles über Kunst“, 1870, S. 222.
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1 pba_460.038
Reinkens: „Aristoteles über Kunst“, 1870, S. 222.
2 pba_460.039
Döring: „Kunstlehre des Aristoteles“, 1876, S. 314.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/478>, abgerufen am 25.11.2024.
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