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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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großem Unrecht als ein Zeugnis für die Bernayssche Theorie in Anspruch pba_452.002
genommen ist. Hier ist die von leidenschaftlichem Schmerz durchwühlte pba_452.003
Erscheinung Flavios geschildert: "sie hatten Orest gesehen, von pba_452.004
Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger pba_452.005
Wirklichkeit." An späterer Stelle heißt es dann: "Hier nun pba_452.006
konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. pba_452.007
Jnnig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem pba_452.008
Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösendem pba_452.009
Schmerz verflüchtigt."

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Natürlich muß die Empfindung, damit an ihr die Läuterung, die pba_452.011
"veredelnde" Wirkung der Kunst möglich werde, "stark angeregt und pba_452.012
hervorgerufen" werden, aber, was nun durch diese Wirkung "auflösend pba_452.013
verflüchtigt
" werden soll, ist doch nicht etwa die Empfindung pba_452.014
selbst, sondern es ist das "Seelenleiden", das Pathematische der pba_452.015
leidenschaftlichen Empfindung: die veredelte, gefaßte, geklärte Empfindung pba_452.016
ist es, die zurückbleibt und an der Stelle der "greulichen, widerwärtigen, pba_452.017
fürchterlichen Wirklichkeit" nun das Gemüt erfüllt und die pba_452.018
Seele beherrscht. Schöner und treffender kann das Wesen der aristotelischen pba_452.019
Katharsis, als einer psychischen Läuterung, nicht ausgedrückt pba_452.020
werden, als es hier geschehen ist: eine Auflösung und Schmelzung, wobei pba_452.021
das individuell Belastende, häßlich Kranke verflüchtigt und ausgeschieden pba_452.022
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So tritt es denn nun auch klar hervor, warum in der Tragödie pba_452.024
die Forderung der Katharsis die wichtige Stelle einnimmt und in ihrer pba_452.025
Definition kategorisch gestellt wird. Denn die Empfindungen, deren pba_452.026
Nachahmung sie geweiht ist, sind die schrecklichsten, ängstigendsten, die pba_452.027
quälendsten, herzzerreißendsten, die das Leben in seinem Wechsel heraufruft, pba_452.028
die es immer wieder, wenn sie etwa in Schlaf gelullt sind, aufweckt, pba_452.029
und mit denen es keinen verschont. Kann es eine höhere Aufgabe pba_452.030
geben, als gerade sie durch die Kunst zu veredeln und das Bild pba_452.031
der furchtbarsten und ergreifendsten Erscheinung des Lebens für den pba_452.032
Betrachter von den entstellenden Zügen "greulicher Wirklichkeit" zu reinigen pba_452.033
und in auflösendem Schmerze aus der Empfindung desselben das pba_452.034
leidvoll Verwirrende zu verflüchtigen?

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Wenn Lessing von den tragischen Empfindungen immer nur als pba_452.036
von "Leidenschaften" spricht, so gibt der Ausdruck freilich leicht zu mißverständlichen pba_452.037
Auffassungen Anlaß, aber er ist doch andrerseits nicht pba_452.038
ungeeignet, auf die Macht und Gewalt hinzuweisen, mit der jene Empfindungen pba_452.039
im Leben auftreten. Und wenn von Lessing die letzte Wirkung pba_452.040
der tragischen Katharsis in die Formel gefaßt wurde, daß sie jene

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großem Unrecht als ein Zeugnis für die Bernayssche Theorie in Anspruch pba_452.002
genommen ist. Hier ist die von leidenschaftlichem Schmerz durchwühlte pba_452.003
Erscheinung Flavios geschildert: „sie hatten Orest gesehen, von pba_452.004
Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger pba_452.005
Wirklichkeit.“ An späterer Stelle heißt es dann: „Hier nun pba_452.006
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Jnnig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem pba_452.008
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Schmerz verflüchtigt.“

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Natürlich muß die Empfindung, damit an ihr die Läuterung, die pba_452.011
„veredelnde“ Wirkung der Kunst möglich werde, „stark angeregt und pba_452.012
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leidenschaftlichen Empfindung: die veredelte, gefaßte, geklärte Empfindung pba_452.016
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fürchterlichen Wirklichkeit“ nun das Gemüt erfüllt und die pba_452.018
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So tritt es denn nun auch klar hervor, warum in der Tragödie pba_452.024
die Forderung der Katharsis die wichtige Stelle einnimmt und in ihrer pba_452.025
Definition kategorisch gestellt wird. Denn die Empfindungen, deren pba_452.026
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Betrachter von den entstellenden Zügen „greulicher Wirklichkeit“ zu reinigen pba_452.033
und in auflösendem Schmerze aus der Empfindung desselben das pba_452.034
leidvoll Verwirrende zu verflüchtigen?

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/470>, abgerufen am 22.11.2024.