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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Wie aus des Aristoteles Büchern "Über die Seele" und aus pba_449.002
seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die pba_449.003
"Pathe", die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge pba_449.004
in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst pba_449.005
an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als pba_449.006
die der Seele eingeborenen obersten Kräfte, ihr Geschäft, welches darin pba_449.007
besteht, der Bethätigung der Empfindungen das rechte Maß anzuweisen pba_449.008
und das durch dieselbe angeregte Begehrungsvermögen zu den richtigen pba_449.009
Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, pba_449.010
die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen pba_449.011
seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach pba_449.012
seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. pba_449.013
Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große pba_449.014
Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig pba_449.015
geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als pba_449.016
die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen pba_449.017
bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet, pba_449.018
von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man pba_449.019
unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben pba_449.020
in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle pba_449.021
versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur pba_449.022
und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der pba_449.023
nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, pba_449.024
der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden pba_449.025
Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig, pba_449.026
unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des pba_449.027
Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen

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Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029
pathemasin unterworfen sind (uperetei), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030
daß hier Aristoteles unmöglich pathesin schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031
nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. pba_449.032
Nicht von den "Empfindungen" werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033
jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. pba_449.034
Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte pathos die pba_449.035
Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach pba_449.036
zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte pathema die Färbung anhaftet, die individuelle, pba_449.037
mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig pba_449.038
abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. -- Das sind die pba_449.039
sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem pba_449.040
überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen.

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Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus pba_449.002
seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die pba_449.003
Pathe“, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge pba_449.004
in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst pba_449.005
an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als pba_449.006
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Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, pba_449.010
die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen pba_449.011
seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach pba_449.012
seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. pba_449.013
Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große pba_449.014
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geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als pba_449.016
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in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle pba_449.021
versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur pba_449.022
und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der pba_449.023
nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, pba_449.024
der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden pba_449.025
Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig, pba_449.026
unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des pba_449.027
Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen

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Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029
παθήμασιν unterworfen sind (ὑπηρετεῖ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030
daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031
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Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033
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Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die pba_449.035
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[449/0467] pba_449.001 Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus pba_449.002 seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die pba_449.003 „Pathe“, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge pba_449.004 in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst pba_449.005 an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als pba_449.006 die der Seele eingeborenen obersten Kräfte, ihr Geschäft, welches darin pba_449.007 besteht, der Bethätigung der Empfindungen das rechte Maß anzuweisen pba_449.008 und das durch dieselbe angeregte Begehrungsvermögen zu den richtigen pba_449.009 Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, pba_449.010 die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen pba_449.011 seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach pba_449.012 seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. pba_449.013 Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große pba_449.014 Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig pba_449.015 geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als pba_449.016 die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen pba_449.017 bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet, pba_449.018 von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man pba_449.019 unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben pba_449.020 in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle pba_449.021 versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur pba_449.022 und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der pba_449.023 nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, pba_449.024 der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden pba_449.025 Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig, pba_449.026 unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des pba_449.027 Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen 1 1 pba_449.028 Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029 παθήμασιν unterworfen sind (ὑπηρετεῖ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030 daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031 nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. pba_449.032 Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033 jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. pba_449.034 Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die pba_449.035 Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach pba_449.036 zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte πάθημα die Färbung anhaftet, die individuelle, pba_449.037 mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig pba_449.038 abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. — Das sind die pba_449.039 sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem pba_449.040 überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/467>, abgerufen am 22.11.2024.