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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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aber wird dadurch von dem Übermäßigen, Falschen, Ungesunden, das pba_444.002
ihr anhaftet, gereinigt, geläutert, daß die richtige, gesunde, daher pba_444.003
dauernd berechtigte Empfindung durch die ihr innewohnende obsiegende pba_444.004
Kraft sich jener gegenüber als die am Schlusse des "Reinigungs"- pba_444.005
Prozesses sich behauptende geltend macht. Solches Endziel der Katharsis pba_444.006
stellt Aristoteles der Tragödie als das Ziel ihrer Wirkung: gegenüber pba_444.007
allen denkbaren Modifikationen der in ihrem Verlauf unvermeidlich aufsteigenden pba_444.008
Furcht- und Mitleidsempfindungen soll sie in ihrer gesamten pba_444.009
Einrichtung das unfehlbar wirkende Heilmittel tragen, das an jenen pba_444.010
die Läuterung vollzieht, sie klärt, zurechtstellt; d. h. mit andern pba_444.011
Worten: sie soll die großen Schicksalsentscheidungen, die ihren Stoff pba_444.012
bilden, so darstellen, daß jedem am letzten Ende die Möglichkeit gewährt pba_444.013
ist, mit seiner Empfindung darüber "völlig ins reine zu kommen", pba_444.014
dem größten und wichtigsten Lebensrätsel gegenüber den rechten Standort pba_444.015
zu gewinnen und mit dem vollständigsten Einblick darein zugleich harmonische pba_444.016
Beruhigung, Erhebung und das edelste Gefühl der Freude zu erfahren.

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Daß aber auch Aristoteles dieses "Gefühl der Freude", auf das pba_444.018
sich unverkennbar geltend machende Bewußtsein der Übereinstimmung pba_444.019
mit der Natur und Wahrheit setzt, beweist seine Definition der Hedone pba_444.020
in der Rhetorik (s. 1369b 33), wo er den Begriff nicht streng systematisch pba_444.021
entwickelt wie in der Ethik, sondern in kurz und populär gefaßter pba_444.022
Formel bezeichnet. Er nennt die Freude eine kinesis tes psukhes pba_444.023
kai katastasis athroa kai aisthete eis ten uparkhousan phusin. pba_444.024
Das heißt nicht: "eine plötzliche Erschütterung und Wiedergewinnung pba_444.025
des seelischen Gleichgewichts", wie Bernays seiner Theorie von der Ekstase pba_444.026
und Entladung durch Sollicitation zuliebe völlig willkürlich und ganz pba_444.027
falsch übersetzt, sondern: "eine Bewegung der Seele und eine volle pba_444.028
und bewußte Herstellung zu der ihr innewohnenden Natur
".

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Noch eine zweite philologische Frage verlangt zum völligen Erweis pba_444.030
der im Obigen vorgetragenen Auffassung der aristotelischen Definition pba_444.031
eine kurze Erörterung. Die Tragödie soll die Kraft haben, durch die pba_444.032
"Empfindungen" -- Pathe -- der Furcht und des Mitleids die Läuterung pba_444.033
"der entsprechenden Gemütsbewegungen" -- Pathemata pba_444.034
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Wie nosos -- Krankheit -- den Namen und damit den Begriff einer pba_444.036
krankhaften Veränderung bezeichnet, nosema -- Erkrankung -- dagegen pba_444.037
das Eintreten derselben in einem einzelnen Falle, der also dem pba_444.038
allgemeinen Krankheitsbilde keineswegs notwendig entsprechen, vielmehr pba_444.039
nach allen Richtungen hin stattfindende, individuelle, so oder so beschaffene pba_444.040
Abweichungen aufweisen wird: so hat Aristoteles die Gewohnheit, mit

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aber wird dadurch von dem Übermäßigen, Falschen, Ungesunden, das pba_444.002
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zu gewinnen und mit dem vollständigsten Einblick darein zugleich harmonische pba_444.016
Beruhigung, Erhebung und das edelste Gefühl der Freude zu erfahren.

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Daß aber auch Aristoteles dieses „Gefühl der Freude“, auf das pba_444.018
sich unverkennbar geltend machende Bewußtsein der Übereinstimmung pba_444.019
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καὶ κατάστασις ἀθρόα καὶ αἰσθητὴ εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν. pba_444.024
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falsch übersetzt, sondern: „eine Bewegung der Seele und eine volle pba_444.028
und bewußte Herstellung zu der ihr innewohnenden Natur
“.

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Noch eine zweite philologische Frage verlangt zum völligen Erweis pba_444.030
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[444/0462] pba_444.001 aber wird dadurch von dem Übermäßigen, Falschen, Ungesunden, das pba_444.002 ihr anhaftet, gereinigt, geläutert, daß die richtige, gesunde, daher pba_444.003 dauernd berechtigte Empfindung durch die ihr innewohnende obsiegende pba_444.004 Kraft sich jener gegenüber als die am Schlusse des „Reinigungs“- pba_444.005 Prozesses sich behauptende geltend macht. Solches Endziel der Katharsis pba_444.006 stellt Aristoteles der Tragödie als das Ziel ihrer Wirkung: gegenüber pba_444.007 allen denkbaren Modifikationen der in ihrem Verlauf unvermeidlich aufsteigenden pba_444.008 Furcht- und Mitleidsempfindungen soll sie in ihrer gesamten pba_444.009 Einrichtung das unfehlbar wirkende Heilmittel tragen, das an jenen pba_444.010 die Läuterung vollzieht, sie klärt, zurechtstellt; d. h. mit andern pba_444.011 Worten: sie soll die großen Schicksalsentscheidungen, die ihren Stoff pba_444.012 bilden, so darstellen, daß jedem am letzten Ende die Möglichkeit gewährt pba_444.013 ist, mit seiner Empfindung darüber „völlig ins reine zu kommen“, pba_444.014 dem größten und wichtigsten Lebensrätsel gegenüber den rechten Standort pba_444.015 zu gewinnen und mit dem vollständigsten Einblick darein zugleich harmonische pba_444.016 Beruhigung, Erhebung und das edelste Gefühl der Freude zu erfahren. pba_444.017 Daß aber auch Aristoteles dieses „Gefühl der Freude“, auf das pba_444.018 sich unverkennbar geltend machende Bewußtsein der Übereinstimmung pba_444.019 mit der Natur und Wahrheit setzt, beweist seine Definition der Hedone pba_444.020 in der Rhetorik (s. 1369b 33), wo er den Begriff nicht streng systematisch pba_444.021 entwickelt wie in der Ethik, sondern in kurz und populär gefaßter pba_444.022 Formel bezeichnet. Er nennt die Freude eine κίνησις τῆς ψυχῆς pba_444.023 καὶ κατάστασις ἀθρόα καὶ αἰσθητὴ εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν. pba_444.024 Das heißt nicht: „eine plötzliche Erschütterung und Wiedergewinnung pba_444.025 des seelischen Gleichgewichts“, wie Bernays seiner Theorie von der Ekstase pba_444.026 und Entladung durch Sollicitation zuliebe völlig willkürlich und ganz pba_444.027 falsch übersetzt, sondern: „eine Bewegung der Seele und eine volle pba_444.028 und bewußte Herstellung zu der ihr innewohnenden Natur“. pba_444.029 Noch eine zweite philologische Frage verlangt zum völligen Erweis pba_444.030 der im Obigen vorgetragenen Auffassung der aristotelischen Definition pba_444.031 eine kurze Erörterung. Die Tragödie soll die Kraft haben, durch die pba_444.032 „Empfindungen“ — Pathe — der Furcht und des Mitleids die Läuterung pba_444.033 „der entsprechenden Gemütsbewegungen“ — Pathemata pba_444.034 — zu vollenden: τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν. pba_444.035 Wie νόσος — Krankheit — den Namen und damit den Begriff einer pba_444.036 krankhaften Veränderung bezeichnet, νόσημα — Erkrankung — dagegen pba_444.037 das Eintreten derselben in einem einzelnen Falle, der also dem pba_444.038 allgemeinen Krankheitsbilde keineswegs notwendig entsprechen, vielmehr pba_444.039 nach allen Richtungen hin stattfindende, individuelle, so oder so beschaffene pba_444.040 Abweichungen aufweisen wird: so hat Aristoteles die Gewohnheit, mit

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/462>, abgerufen am 25.11.2024.