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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Hier gilt es nun zunächst, die Auseinandersetzung mit der Theorie pba_433.002
aufzunehmen, die vor etwa dreißig Jahren Jakob Bernays in seiner pba_433.003
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noch in Geltung zu sein scheint oder doch nur halb erschüttert.

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Bernays gibt die folgende "umschreibende Übersetzung" der aristotelischen pba_433.006
Definition: "Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid pba_433.007
und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen pba_433.008
und furchtsamen) Gemütsaffektionen," die durch das Folgende dahin pba_433.009
erklärt wird, daß er darunter "die erleichternde Entladung von solchen pba_433.010
Gemütsaffektionen" versteht. Seine Auffassung der tragischen Kunst, pba_433.011
wie der Musik und eigentlich wohl aller Kunst, gipfelt darin, daß sie pba_433.012
zunächst die Affekte sollicitiere, diese ganz entfessele, sie so gleichsam pba_433.013
sich austoben lasse und somit die erleichternde Entladung, die Katharsis, pba_433.014
von den betreffenden Affekten der Seele gewähre und sie auf solche pba_433.015
Weise zur Ruhe gelangen lasse. Solche Entladung, streng im medizinischpathologischen pba_433.016
Sinne genommen, errege eben durch die damit erzielte pba_433.017
Erleichterung ein Lustgefühl, eine "unschädliche Freude": dieses ist, pba_433.018
nach Bernays, die Hedone, die Freude, die wir durch die Kunst genießen.

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Zu dieser wunderlichen Theorie, die dem Systeme des Aristoteles pba_433.020
ebensosehr widerspricht als unsern modernen Anschauungen, ist Bernays pba_433.021
durch die bekannte Stelle verführt, wo am Schlusse der uns erhaltenen pba_433.022
Schrift des Aristoteles über die "Politieen" von "der Heilung und pba_433.023
Katharsis" die Rede ist, welcher die vom Enthusiasmus Überwältigten pba_433.024
durch "die heiligen Lieder" teilhaftig werden. Daß hier die Katharsis pba_433.025
mit einem medizinischen Vorgange verglichen wird, ist unbestreitbar und pba_433.026
auch niemals bestritten. Lessing ebenso wie Goethe und Herder haben pba_433.027
die Stelle gekannt und erwähnt. Sie ist aber von Bernays in einem pba_433.028
wesentlichen Punkte -- ja in dem für die vorliegende Frage wesentlichsten pba_433.029
-- willkürlich gedeutet, und sodann mit dieser unrichtigen pba_433.030
Deutung in einer den Grundlehren der aristotelischen Psychologie, pba_433.031
Ethik und Kunsttheorie widersprechenden Weise
auf pba_433.032
die Definition der Tragödie übertragen worden.

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Das läßt sich in Kürze zeigen, auch ohne den philologischen Apparat pba_433.034
der Bernaysschen Abhandlung einer eingehenden Kritik zu unterwerfen, pba_433.035
für die hier nicht die rechte Stelle wäre, die übrigens das pba_433.036
ausgesprochene negative Resultat durchweg bestätigt.2

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"Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der pba_433.038
Tragödie." Abhandl. der Histor. Phil. Gesellsch. in Breslau. 1. Bd. 1857.
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Der Verfasser hat in zwei Schriften diesen Nachweis unternommen, einmal

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Hier gilt es nun zunächst, die Auseinandersetzung mit der Theorie pba_433.002
aufzunehmen, die vor etwa dreißig Jahren Jakob Bernays in seiner pba_433.003
bekannten Abhandlung1 aufstellte, und deren Ansehen in weiten Kreisen pba_433.004
noch in Geltung zu sein scheint oder doch nur halb erschüttert.

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Bernays gibt die folgende „umschreibende Übersetzung“ der aristotelischen pba_433.006
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Gemütsaffektionen“ versteht. Seine Auffassung der tragischen Kunst, pba_433.011
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nach Bernays, die Hedone, die Freude, die wir durch die Kunst genießen.

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Zu dieser wunderlichen Theorie, die dem Systeme des Aristoteles pba_433.020
ebensosehr widerspricht als unsern modernen Anschauungen, ist Bernays pba_433.021
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mit einem medizinischen Vorgange verglichen wird, ist unbestreitbar und pba_433.026
auch niemals bestritten. Lessing ebenso wie Goethe und Herder haben pba_433.027
die Stelle gekannt und erwähnt. Sie ist aber von Bernays in einem pba_433.028
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Deutung in einer den Grundlehren der aristotelischen Psychologie, pba_433.031
Ethik und Kunsttheorie widersprechenden Weise
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die Definition der Tragödie übertragen worden.

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Das läßt sich in Kürze zeigen, auch ohne den philologischen Apparat pba_433.034
der Bernaysschen Abhandlung einer eingehenden Kritik zu unterwerfen, pba_433.035
für die hier nicht die rechte Stelle wäre, die übrigens das pba_433.036
ausgesprochene negative Resultat durchweg bestätigt.2

1 pba_433.037
„Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der pba_433.038
Tragödie.“ Abhandl. der Histor. Phil. Gesellsch. in Breslau. 1. Bd. 1857.
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[433/0451] pba_433.001 Hier gilt es nun zunächst, die Auseinandersetzung mit der Theorie pba_433.002 aufzunehmen, die vor etwa dreißig Jahren Jakob Bernays in seiner pba_433.003 bekannten Abhandlung 1 aufstellte, und deren Ansehen in weiten Kreisen pba_433.004 noch in Geltung zu sein scheint oder doch nur halb erschüttert. pba_433.005 Bernays gibt die folgende „umschreibende Übersetzung“ der aristotelischen pba_433.006 Definition: „Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid pba_433.007 und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen pba_433.008 und furchtsamen) Gemütsaffektionen,“ die durch das Folgende dahin pba_433.009 erklärt wird, daß er darunter „die erleichternde Entladung von solchen pba_433.010 Gemütsaffektionen“ versteht. Seine Auffassung der tragischen Kunst, pba_433.011 wie der Musik und eigentlich wohl aller Kunst, gipfelt darin, daß sie pba_433.012 zunächst die Affekte sollicitiere, diese ganz entfessele, sie so gleichsam pba_433.013 sich austoben lasse und somit die erleichternde Entladung, die Katharsis, pba_433.014 von den betreffenden Affekten der Seele gewähre und sie auf solche pba_433.015 Weise zur Ruhe gelangen lasse. Solche Entladung, streng im medizinischpathologischen pba_433.016 Sinne genommen, errege eben durch die damit erzielte pba_433.017 Erleichterung ein Lustgefühl, eine „unschädliche Freude“: dieses ist, pba_433.018 nach Bernays, die Hedone, die Freude, die wir durch die Kunst genießen. pba_433.019 Zu dieser wunderlichen Theorie, die dem Systeme des Aristoteles pba_433.020 ebensosehr widerspricht als unsern modernen Anschauungen, ist Bernays pba_433.021 durch die bekannte Stelle verführt, wo am Schlusse der uns erhaltenen pba_433.022 Schrift des Aristoteles über die „Politieen“ von „der Heilung und pba_433.023 Katharsis“ die Rede ist, welcher die vom Enthusiasmus Überwältigten pba_433.024 durch „die heiligen Lieder“ teilhaftig werden. Daß hier die Katharsis pba_433.025 mit einem medizinischen Vorgange verglichen wird, ist unbestreitbar und pba_433.026 auch niemals bestritten. Lessing ebenso wie Goethe und Herder haben pba_433.027 die Stelle gekannt und erwähnt. Sie ist aber von Bernays in einem pba_433.028 wesentlichen Punkte — ja in dem für die vorliegende Frage wesentlichsten pba_433.029 — willkürlich gedeutet, und sodann mit dieser unrichtigen pba_433.030 Deutung in einer den Grundlehren der aristotelischen Psychologie, pba_433.031 Ethik und Kunsttheorie widersprechenden Weise auf pba_433.032 die Definition der Tragödie übertragen worden. pba_433.033 Das läßt sich in Kürze zeigen, auch ohne den philologischen Apparat pba_433.034 der Bernaysschen Abhandlung einer eingehenden Kritik zu unterwerfen, pba_433.035 für die hier nicht die rechte Stelle wäre, die übrigens das pba_433.036 ausgesprochene negative Resultat durchweg bestätigt. 2 1 pba_433.037 „Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der pba_433.038 Tragödie.“ Abhandl. der Histor. Phil. Gesellsch. in Breslau. 1. Bd. 1857. 2 pba_433.039 Der Verfasser hat in zwei Schriften diesen Nachweis unternommen, einmal

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/451>, abgerufen am 25.11.2024.