pba_430.001 söhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja pba_430.002 sogar von allen poetischen Werken gefordert werde." Jn pba_430.003 diesen Worten liegt die ausdrückliche Erklärung seiner Uebereinstimmung pba_430.004 mit Aristoteles: wie dieser setzt er die Wirkung der Tragödie in die pba_430.005 Erregung von Furcht und Mitleid des Zuschauers, und wie pba_430.006 diesem ist ihm "zum Abschluß dieser Wirkung eine Söhnung, pba_430.007 eine Lösung unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes pba_430.008 Kunstwerk sein solle." Aber indem er im scharfen Gegensatz zu Lessing pba_430.009 diese "Söhnung" oder "Lösung" als allein in dem Kunstwerk selbst pba_430.010 liegend erklärt, begeht er den umgekehrten Fehler wie dieser, der die pba_430.011 Katharsis als eine "Reinigung" der Furcht- und Mitleids-"Leidenschaften" pba_430.012 ganz in die Seele des Zuschauers verlegt. Der rechte Sinn der aristotelischen pba_430.013 Definition, indem er die Mitte zwischen beiden hält, vereinigt pba_430.014 beides: Lessings Jnterpretation, deren Wortlaut bedenklich zu einer pba_430.015 moralischen Auffassung des Dichtungszweckes zu neigen scheint (von pba_430.016 welcher er doch im Grunde ganz frei war), verleitet dazu, die Grenzen pba_430.017 der Definition ungebührlich zu erweitern und die Vorstellung einer pba_430.018 möglichen Folge anstatt des Wesens des Kunstwerks selbst ins Auge zu pba_430.019 fassen; dagegen verengt Goethes Auffassung die Definition, indem sie pba_430.020 den wesentlichen Umstand verkennt, daß die entscheidende Bestimmung pba_430.021 für die objektive Beschaffenheit der tragischen Handlung von Aristoteles pba_430.022 in die Forderung gelegt ist, daß ihr die Kraft erteilt werde, die pba_430.023 reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids hervorzurufen, -- pba_430.024 wo anders also als in der Seele des Zuschauers?
pba_430.025 Es liegt in der Natur der dramatischen Kunstgattung, daß dieses pba_430.026 Ziel in seiner Vollkommenheit erst mit dem Abschluß der Dichtung pba_430.027 erreicht werden kann: dies ist es, was Goethe dazu bewogen hat, diesen pba_430.028 Umstand so einseitig zu betonen. Erst mit ihrem Abschluß kann die pba_430.029 Handlungen nachahmende Kunst dasjenige darbieten, was die bildende pba_430.030 Kunst mit eins vor das Auge stellt. Ohne daß freilich damit gesagt pba_430.031 würde, daß den Werken der letzteren nicht ebensowohl das Ziel gesetzt pba_430.032 wäre, eine entsprechende "Katharsis" zu vollenden. Dieselbe tritt nur pba_430.033 nicht so deutlich hervor wie bei den fortschreitenden Künsten. Der pba_430.034 Sprachgebrauch freilich nennt das Gebilde der Kunst geradehin schön;pba_430.035 aber diese Bezeichnung gehört ihm doch nur insofern, als es vermögend pba_430.036 ist, das Phänomen der Schönheit in der Seele des Beschauers pba_430.037 entstehen zu lassen, denn einzig und allein hier hat dasselbe pba_430.038 seinen Sitz! Daß es also diejenigen objektiven Beschaffenheitenpba_430.039 in sich vereinigt, welche dem Empfinden den unmittelbaren pba_430.040 und mit innerer Notwendigkeit wirkenden Anlaß gewähren,
pba_430.001 söhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja pba_430.002 sogar von allen poetischen Werken gefordert werde.“ Jn pba_430.003 diesen Worten liegt die ausdrückliche Erklärung seiner Uebereinstimmung pba_430.004 mit Aristoteles: wie dieser setzt er die Wirkung der Tragödie in die pba_430.005 Erregung von Furcht und Mitleid des Zuschauers, und wie pba_430.006 diesem ist ihm „zum Abschluß dieser Wirkung eine Söhnung, pba_430.007 eine Lösung unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes pba_430.008 Kunstwerk sein solle.“ Aber indem er im scharfen Gegensatz zu Lessing pba_430.009 diese „Söhnung“ oder „Lösung“ als allein in dem Kunstwerk selbst pba_430.010 liegend erklärt, begeht er den umgekehrten Fehler wie dieser, der die pba_430.011 Katharsis als eine „Reinigung“ der Furcht- und Mitleids-„Leidenschaften“ pba_430.012 ganz in die Seele des Zuschauers verlegt. Der rechte Sinn der aristotelischen pba_430.013 Definition, indem er die Mitte zwischen beiden hält, vereinigt pba_430.014 beides: Lessings Jnterpretation, deren Wortlaut bedenklich zu einer pba_430.015 moralischen Auffassung des Dichtungszweckes zu neigen scheint (von pba_430.016 welcher er doch im Grunde ganz frei war), verleitet dazu, die Grenzen pba_430.017 der Definition ungebührlich zu erweitern und die Vorstellung einer pba_430.018 möglichen Folge anstatt des Wesens des Kunstwerks selbst ins Auge zu pba_430.019 fassen; dagegen verengt Goethes Auffassung die Definition, indem sie pba_430.020 den wesentlichen Umstand verkennt, daß die entscheidende Bestimmung pba_430.021 für die objektive Beschaffenheit der tragischen Handlung von Aristoteles pba_430.022 in die Forderung gelegt ist, daß ihr die Kraft erteilt werde, die pba_430.023 reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids hervorzurufen, — pba_430.024 wo anders also als in der Seele des Zuschauers?
pba_430.025 Es liegt in der Natur der dramatischen Kunstgattung, daß dieses pba_430.026 Ziel in seiner Vollkommenheit erst mit dem Abschluß der Dichtung pba_430.027 erreicht werden kann: dies ist es, was Goethe dazu bewogen hat, diesen pba_430.028 Umstand so einseitig zu betonen. Erst mit ihrem Abschluß kann die pba_430.029 Handlungen nachahmende Kunst dasjenige darbieten, was die bildende pba_430.030 Kunst mit eins vor das Auge stellt. Ohne daß freilich damit gesagt pba_430.031 würde, daß den Werken der letzteren nicht ebensowohl das Ziel gesetzt pba_430.032 wäre, eine entsprechende „Katharsis“ zu vollenden. Dieselbe tritt nur pba_430.033 nicht so deutlich hervor wie bei den fortschreitenden Künsten. Der pba_430.034 Sprachgebrauch freilich nennt das Gebilde der Kunst geradehin schön;pba_430.035 aber diese Bezeichnung gehört ihm doch nur insofern, als es vermögend pba_430.036 ist, das Phänomen der Schönheit in der Seele des Beschauers pba_430.037 entstehen zu lassen, denn einzig und allein hier hat dasselbe pba_430.038 seinen Sitz! Daß es also diejenigen objektiven Beschaffenheitenpba_430.039 in sich vereinigt, welche dem Empfinden den unmittelbaren pba_430.040 und mit innerer Notwendigkeit wirkenden Anlaß gewähren,
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/448>, abgerufen am 25.11.2024.
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