pba_427.001 überhaupt im Bereiche der Kunst liegt, das Schicksal, wie es nicht etwa pba_427.002 strafend die Schlechten trifft, sondern mit seiner Macht über allen und pba_427.003 den Besten schwebt; vollständig muß er vorgeführt werden, denn nur pba_427.004 so kann er in seiner Wahrheit der Wahrnehmung und Empfindung faßbar pba_427.005 gemacht werden; es muß sich darin um etwas in diesen Sphären pba_427.006 relativ Bedeutendes, um etwas Großes also, handeln, denn die pba_427.007 Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids müssen in der pba_427.008 vollen, ihnen eigenen Wucht hervorgerufen werden, die eben nur den pba_427.009 großen Entscheidungen des Lebens gegenüber eintritt. Keine solcher pba_427.010 großen Entscheidungen, in denen die Uebermacht des Schicksals über den pba_427.011 Menschen offenbar wird, mögen sie nun dem Leben angehören oder in pba_427.012 der Phantasie erschaffen sein, wird verfehlen, das Mitleid oder die Furcht pba_427.013 oder auch beide Empfindungen zugleich in uns zur Thätigkeit aufzuregen. pba_427.014 Worauf nun aber alles ankommt, das ist die Frage: wie pba_427.015 müssen diese Empfindungen geartet und beschaffen sein, um pba_427.016 das würdige Ziel der Kunst zu bilden? Freilich sind diese pba_427.017 Empfindungen, wie eine jede ästhetische Erregung, rein subjektiv; pba_427.018 aber wie ein Gemälde, eine Statue, ein lyrisches Gedicht, die wir pba_427.019 schön nennen, eben darum so heißen, weil sie die Veranlassung in pba_427.020 sich tragen, die durch ihre Wahrnehmung in Bewegung gesetzte Empfindungsthätigkeit pba_427.021 zu einer in ihrer Art vollendeten zu gestalten, so pba_427.022 erhält nun die Tragödie die Bestimmung, nur solche Schicksalsentscheidungen pba_427.023 vorzuführen und ihren Verlauf derartig einzurichten, daß dieselben pba_427.024 alle Bedingungen in sich vereinigen, um den ihnen entsprechenden pba_427.025 Empfindungen in ihrer vollendetsten Gestalt zur Bethätigung den Anlaß pba_427.026 zu gewähren. Es ist ein nie genug zu bewundernder Meistergriff, daß pba_427.027 Aristoteles die für die Beschaffenheit der nachzuahmenden Handlung entscheidende pba_427.028 Norm in die Aufstellung derjenigen objektiven Kompositionsgesetzepba_427.029 gelegt hat, die sich aus der Forderung, für pba_427.030 bestimmt geartete Empfindungen die Erregungsursachen in pba_427.031 sich zu vereinen, nun mit Notwendigkeit ergeben müssen,pba_427.032 und daß er ferner diese Empfindungen selbst und die für sie erforderliche pba_427.033 Modifikation so sicher erkannt hat. Dieses Verfahren zeigt, wie pba_427.034 unzweifelhaft klar ihm die Natur des "ästhetischen Urteils" vor Augen pba_427.035 stand, daß es nämlich "ohne Begriffe", ohne die "Reflexion auf irgend pba_427.036 welche logische oder moralische Erkenntnisse" unmittelbar gefällt wird pba_427.037 und dennoch "allgemein-gültig und allgemein-verbindlich" ist, eben pba_427.038 weil es in einer durch den objektiv richtig beschaffenen pba_427.039 Erregungsanlaß nun auch objektiv richtig bestimmten Empfindungsentscheidung pba_427.040 besteht.
pba_427.001 überhaupt im Bereiche der Kunst liegt, das Schicksal, wie es nicht etwa pba_427.002 strafend die Schlechten trifft, sondern mit seiner Macht über allen und pba_427.003 den Besten schwebt; vollständig muß er vorgeführt werden, denn nur pba_427.004 so kann er in seiner Wahrheit der Wahrnehmung und Empfindung faßbar pba_427.005 gemacht werden; es muß sich darin um etwas in diesen Sphären pba_427.006 relativ Bedeutendes, um etwas Großes also, handeln, denn die pba_427.007 Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids müssen in der pba_427.008 vollen, ihnen eigenen Wucht hervorgerufen werden, die eben nur den pba_427.009 großen Entscheidungen des Lebens gegenüber eintritt. Keine solcher pba_427.010 großen Entscheidungen, in denen die Uebermacht des Schicksals über den pba_427.011 Menschen offenbar wird, mögen sie nun dem Leben angehören oder in pba_427.012 der Phantasie erschaffen sein, wird verfehlen, das Mitleid oder die Furcht pba_427.013 oder auch beide Empfindungen zugleich in uns zur Thätigkeit aufzuregen. pba_427.014 Worauf nun aber alles ankommt, das ist die Frage: wie pba_427.015 müssen diese Empfindungen geartet und beschaffen sein, um pba_427.016 das würdige Ziel der Kunst zu bilden? Freilich sind diese pba_427.017 Empfindungen, wie eine jede ästhetische Erregung, rein subjektiv; pba_427.018 aber wie ein Gemälde, eine Statue, ein lyrisches Gedicht, die wir pba_427.019 schön nennen, eben darum so heißen, weil sie die Veranlassung in pba_427.020 sich tragen, die durch ihre Wahrnehmung in Bewegung gesetzte Empfindungsthätigkeit pba_427.021 zu einer in ihrer Art vollendeten zu gestalten, so pba_427.022 erhält nun die Tragödie die Bestimmung, nur solche Schicksalsentscheidungen pba_427.023 vorzuführen und ihren Verlauf derartig einzurichten, daß dieselben pba_427.024 alle Bedingungen in sich vereinigen, um den ihnen entsprechenden pba_427.025 Empfindungen in ihrer vollendetsten Gestalt zur Bethätigung den Anlaß pba_427.026 zu gewähren. Es ist ein nie genug zu bewundernder Meistergriff, daß pba_427.027 Aristoteles die für die Beschaffenheit der nachzuahmenden Handlung entscheidende pba_427.028 Norm in die Aufstellung derjenigen objektiven Kompositionsgesetzepba_427.029 gelegt hat, die sich aus der Forderung, für pba_427.030 bestimmt geartete Empfindungen die Erregungsursachen in pba_427.031 sich zu vereinen, nun mit Notwendigkeit ergeben müssen,pba_427.032 und daß er ferner diese Empfindungen selbst und die für sie erforderliche pba_427.033 Modifikation so sicher erkannt hat. Dieses Verfahren zeigt, wie pba_427.034 unzweifelhaft klar ihm die Natur des „ästhetischen Urteils“ vor Augen pba_427.035 stand, daß es nämlich „ohne Begriffe“, ohne die „Reflexion auf irgend pba_427.036 welche logische oder moralische Erkenntnisse“ unmittelbar gefällt wird pba_427.037 und dennoch „allgemein-gültig und allgemein-verbindlich“ ist, eben pba_427.038 weil es in einer durch den objektiv richtig beschaffenen pba_427.039 Erregungsanlaß nun auch objektiv richtig bestimmten Empfindungsentscheidung pba_427.040 besteht.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/445>, abgerufen am 22.11.2024.
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