pba_416.001 ereignete oder doch ereignet haben könnte. Jn seinem Fils naturel pba_416.002 macht er in der That die Fiktion, daß die handelnden Personen ein pba_416.003 eigenes Erlebnis in getreuer Wiederholung miteinander in Scene setzen; pba_416.004 so, meint er, müsse sowohl der Ausdruck als das Spiel die höchste pba_416.005 Wahrheit und damit die stärkste Wirkung erreichen. Aber die reformatorische pba_416.006 Bedeutung dieses Beispiels und der gleichzeitig damit aufgestellten pba_416.007 Theorie lag vornehmlich in der Bekämpfung der hergebrachten pba_416.008 Regeln des falschen Klassicismus. Wenn nun jedoch Diderot so weit pba_416.009 ging, alle dramatischen Gesetze, die von der auf die Zuschauer hervorzubringenden pba_416.010 Wirkung hergenommen sind, schon um dessentwillen zu pba_416.011 verwerfen, so entzog er einmal der Theorie den Boden, auf dem sie pba_416.012 allein existieren kann, und trat sodann auch mit seiner eigenen Theorie pba_416.013 in Widerspruch; denn in was anderes setzt er den Zweck der Komödie, pba_416.014 als bei den Zuschauern "Lachen und Verachtung" zu erwecken, und den pba_416.015 des ernsten Genres, als ihnen die Liebe zur Tugend einzuflößen, die pba_416.016 Bewunderung der Pflichterfüllung und die Rührung über die dabei pba_416.017 erduldeten Leiden? Der Fehler, aus dem alle Verwirrung bei ihm entspringt, pba_416.018 ist eben der, daß diese Zwecke ihm im Grunde sich zu dem einen pba_416.019 einzigen verschmelzen, den er überhaupt aller Kunst setzt, d. i. der Tugend pba_416.020 Bewunderer zu gewinnen. Die Konsequenzen dieses Fehlers treten sogleich pba_416.021 nach beiden Seiten hervor: die Komödie soll sich nicht begnügen, pba_416.022 das Lächerliche vorzuführen, sondern sie soll auch das Laster darstellen pba_416.023 und den Haß desselben erregen, wodurch die Befreiung von dem Ernste pba_416.024 des moralischen Erwägens, ohne welche das ästhetisch Lächerliche gar nicht pba_416.025 bestehen kann, unrettbar vernichtet wird; die heitere Anmut, das pba_416.026 schrankenlose Phantasiespiel der echten Komödie wird unter den strengen pba_416.027 und schweren Bann der Verstandeskritik und des vernünftig-sittlichen pba_416.028 Urteils gebeugt, das Zauberland der wahren komischen Poesie verschlossen. pba_416.029 Umgekehrt bleibt bei der Beschränkung des genre serieux auf die Darstellung pba_416.030 des honnete, der devoirs und der vertu, da die Meinung doch nicht pba_416.031 ist, daß es lediglich in der Malerei idyllischer Scenen bestehen soll, pba_416.032 diesem nichts übrig als durch die Vorführung tugendhaften Leidenspba_416.033 das Mitleid zu erregen, welches, da seine tragische Vertiefung ausgeschlossen pba_416.034 ist, in die bloße Rührung verläuft. Hier ist der Punkt, pba_416.035 wo der dramatische Dichter Diderot sich mit Jffland und dem ganz pba_416.036 trivialen Rührstück unmittelbar berührt.
pba_416.037 Hier zeigt sich ferner auf das Deutlichste, an welcher Stelle, bei pba_416.038 der durchgehenden Verwirrung, die durch Diderots moralisierende Anschauungsweise pba_416.039 in seine dramaturgischen Theorien gebracht wurde, das pba_416.040 Wahre vom Falschen sich scheidet: ebenso tritt klar hervor, wie seine
pba_416.001 ereignete oder doch ereignet haben könnte. Jn seinem Fils naturel pba_416.002 macht er in der That die Fiktion, daß die handelnden Personen ein pba_416.003 eigenes Erlebnis in getreuer Wiederholung miteinander in Scene setzen; pba_416.004 so, meint er, müsse sowohl der Ausdruck als das Spiel die höchste pba_416.005 Wahrheit und damit die stärkste Wirkung erreichen. Aber die reformatorische pba_416.006 Bedeutung dieses Beispiels und der gleichzeitig damit aufgestellten pba_416.007 Theorie lag vornehmlich in der Bekämpfung der hergebrachten pba_416.008 Regeln des falschen Klassicismus. Wenn nun jedoch Diderot so weit pba_416.009 ging, alle dramatischen Gesetze, die von der auf die Zuschauer hervorzubringenden pba_416.010 Wirkung hergenommen sind, schon um dessentwillen zu pba_416.011 verwerfen, so entzog er einmal der Theorie den Boden, auf dem sie pba_416.012 allein existieren kann, und trat sodann auch mit seiner eigenen Theorie pba_416.013 in Widerspruch; denn in was anderes setzt er den Zweck der Komödie, pba_416.014 als bei den Zuschauern „Lachen und Verachtung“ zu erwecken, und den pba_416.015 des ernsten Genres, als ihnen die Liebe zur Tugend einzuflößen, die pba_416.016 Bewunderung der Pflichterfüllung und die Rührung über die dabei pba_416.017 erduldeten Leiden? Der Fehler, aus dem alle Verwirrung bei ihm entspringt, pba_416.018 ist eben der, daß diese Zwecke ihm im Grunde sich zu dem einen pba_416.019 einzigen verschmelzen, den er überhaupt aller Kunst setzt, d. i. der Tugend pba_416.020 Bewunderer zu gewinnen. Die Konsequenzen dieses Fehlers treten sogleich pba_416.021 nach beiden Seiten hervor: die Komödie soll sich nicht begnügen, pba_416.022 das Lächerliche vorzuführen, sondern sie soll auch das Laster darstellen pba_416.023 und den Haß desselben erregen, wodurch die Befreiung von dem Ernste pba_416.024 des moralischen Erwägens, ohne welche das ästhetisch Lächerliche gar nicht pba_416.025 bestehen kann, unrettbar vernichtet wird; die heitere Anmut, das pba_416.026 schrankenlose Phantasiespiel der echten Komödie wird unter den strengen pba_416.027 und schweren Bann der Verstandeskritik und des vernünftig-sittlichen pba_416.028 Urteils gebeugt, das Zauberland der wahren komischen Poesie verschlossen. pba_416.029 Umgekehrt bleibt bei der Beschränkung des genre sérieux auf die Darstellung pba_416.030 des honnête, der devoirs und der vertu, da die Meinung doch nicht pba_416.031 ist, daß es lediglich in der Malerei idyllischer Scenen bestehen soll, pba_416.032 diesem nichts übrig als durch die Vorführung tugendhaften Leidenspba_416.033 das Mitleid zu erregen, welches, da seine tragische Vertiefung ausgeschlossen pba_416.034 ist, in die bloße Rührung verläuft. Hier ist der Punkt, pba_416.035 wo der dramatische Dichter Diderot sich mit Jffland und dem ganz pba_416.036 trivialen Rührstück unmittelbar berührt.
pba_416.037 Hier zeigt sich ferner auf das Deutlichste, an welcher Stelle, bei pba_416.038 der durchgehenden Verwirrung, die durch Diderots moralisierende Anschauungsweise pba_416.039 in seine dramaturgischen Theorien gebracht wurde, das pba_416.040 Wahre vom Falschen sich scheidet: ebenso tritt klar hervor, wie seine
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/434>, abgerufen am 25.11.2024.
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