pba_389.001 Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als pba_389.002 verhängnisvoll erscheinender Jrrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen pba_389.003 sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde, pba_389.004 allmählich anwachsende Entwickelungen in den präcisen Ablauf der vor pba_389.005 den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird pba_389.006 der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, um so mehr gezwungen pba_389.007 sein, die Hülfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl pba_389.008 bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung pba_389.009 erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette pba_389.010 von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur pba_389.011 Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und pba_389.012 Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren pba_389.013 dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren pba_389.014 Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung pba_389.015 in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu pba_389.016 verhelfen, d. i. im strengen künstlerischen Sinne "zu gefallen".
pba_389.017 Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten pba_389.018 Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem pba_389.019 Gegenstande der luftigen Handlung seines "Sturms" gemacht. Er pba_389.020 besaß die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie pba_389.021 ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu pba_389.022 bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch pba_389.023 die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Jndividualität bei pba_389.024 aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch pba_389.025 das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und pba_389.026 durch die klar und sicher empfundene Mißbilligung des pba_389.027 Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen pba_389.028 sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom pba_389.029 Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.
pba_389.030 So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären pba_389.031 Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist, pba_389.032 trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben pba_389.033 sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen pba_389.034 Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten pba_389.035 Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist.
pba_389.036 Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht, pba_389.037 wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis pba_389.038 angewendet hat. Das "Wintermärchen" ist noch nach dem "Sturm" pba_389.039 entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit pba_389.040 seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgend
pba_389.001 Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als pba_389.002 verhängnisvoll erscheinender Jrrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen pba_389.003 sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde, pba_389.004 allmählich anwachsende Entwickelungen in den präcisen Ablauf der vor pba_389.005 den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird pba_389.006 der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, um so mehr gezwungen pba_389.007 sein, die Hülfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl pba_389.008 bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung pba_389.009 erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette pba_389.010 von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur pba_389.011 Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und pba_389.012 Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren pba_389.013 dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren pba_389.014 Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung pba_389.015 in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu pba_389.016 verhelfen, d. i. im strengen künstlerischen Sinne „zu gefallen“.
pba_389.017 Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten pba_389.018 Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem pba_389.019 Gegenstande der luftigen Handlung seines „Sturms“ gemacht. Er pba_389.020 besaß die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie pba_389.021 ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu pba_389.022 bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch pba_389.023 die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Jndividualität bei pba_389.024 aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch pba_389.025 das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und pba_389.026 durch die klar und sicher empfundene Mißbilligung des pba_389.027 Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen pba_389.028 sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom pba_389.029 Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.
pba_389.030 So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären pba_389.031 Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist, pba_389.032 trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben pba_389.033 sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen pba_389.034 Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten pba_389.035 Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist.
pba_389.036 Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht, pba_389.037 wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis pba_389.038 angewendet hat. Das „Wintermärchen“ ist noch nach dem „Sturm“ pba_389.039 entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit pba_389.040 seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgend
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/407>, abgerufen am 25.11.2024.
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