pba_375.001 dramatischen Kunst und zeigt uns das Wesen der dort thätigen Kräfte pba_375.002 bei ihrer Arbeit und in ihren Wirkungen.
pba_375.003 Es greift also jener Sinn der echten Phronesis, um seine Geltung pba_375.004 im Leben zurückzugewinnen, sich kund zu thun, zu dem Mittel, durch pba_375.005 Kunst die Geister nach seinem Willen zu zwingen, die dunkeln und pba_375.006 wunderbaren Kräfte der Phantasie sich unterthan zu machen. Noch ist pba_375.007 dies Gebiet wüst, unangebaut; was findet er dort vor? Jene Kräfte, pba_375.008 welche die Kunst zu heilsamster Übung erzieht, sind auch zuvor in starker pba_375.009 Thätigkeit; aber sich selbst überlassen, sind sie verwildert und wirken pba_375.010 höchst unheilvoll. Die Hexe Sycorax, die Mond und Flut bezwingt, pba_375.011 ist das Bild des wüsten, dunkeln Wahnes, der in der langen Nacht pba_375.012 des Mittelalters dem "gift'gen Moor" der Unwissenheit und Trägheit, pba_375.013 der rohen Sinnlichkeit und feigen Angst entstieg; Bosheit und Sünde pba_375.014 gesellen sich ihr zu: mit jener Hexe erzeugt der Teufel das groteske pba_375.015 Gebilde des sklavisch niedrigen Aberglaubens. Häßlich, abschreckend pba_375.016 von Gestalt, tierisch und gefährlich in seinen Äußerungen, pba_375.017 von Angst erfüllt und Angst denen erregend, denen er überlegen ist, pba_375.018 den seiner Macht Entzogenen ein Gegenstand der Verachtung und des pba_375.019 Hohnes, ist Caliban das unübertrefflich erfundene Symbol dieser pba_375.020 kranken Ausgeburt verwilderter Phantasie: ein "gift'ger Sklav" dem pba_375.021 weisen Prospero, ein "Mondkalb" und "Monstrum" dem trunkenen pba_375.022 Stephano, dem schwachköpfigen Trinculo ein Schreckensgebild und eine pba_375.023 "marktbare Kuriosität" den weltmännischen Kavalieren des Hofes.
pba_375.024 Dieser rohe Aberglaube hat so lange die Gemüter beherrscht und pba_375.025 jede freiere Regung daraus verbannt; in der überlegenen Weisheit und pba_375.026 klaren Einsicht, die einer heiteren, bewußt sich selbst gestaltenden Thätigkeit pba_375.027 der Einbildungskräfte freies und segensreiches Walten eröffnet, pba_375.028 sieht er die gehaßte und gefürchtete Usurpation, die ihn unterjocht, aus pba_375.029 seinem Besitze verdrängt. Jhn unterjocht, nicht aber ihn vernichtet, der pba_375.030 nicht zu vernichten ist! Mit höchst bewundernswerter Feinheit hat pba_375.031 Shakespeare dieses Verhältnis bis ins Kleinste ausgestaltet. Die vielhundertjährige pba_375.032 Herrschaft des Aberglaubens hat ihm eine Macht über pba_375.033 die Gemüter verliehen, die der Dichter keineswegs gesonnen ist zu entbehren; pba_375.034 ja er verdankt, wie Prospero dem Caliban, seinem Studium pba_375.035 mancherlei willkommene Kunde. Er lehrte ihn gewissermaßen sprechen pba_375.036 und erfuhr von ihm manches fruchtbare Geheimnis, wie die Gemüter pba_375.037 zu fassen, zu erschüttern, zu bändigen sind. So nimmt er ihn denn pba_375.038 auch in seine Dienste, aber in die engsten Grenzen schließt er ihn ein, pba_375.039 und gebraucht ihn nur zu streng bemessener, mechanischer Verrichtung, pba_375.040 die durch seinen höheren Zweck erst die Bedeutung erhält. Nicht an-
pba_375.001 dramatischen Kunst und zeigt uns das Wesen der dort thätigen Kräfte pba_375.002 bei ihrer Arbeit und in ihren Wirkungen.
pba_375.003 Es greift also jener Sinn der echten Phronesis, um seine Geltung pba_375.004 im Leben zurückzugewinnen, sich kund zu thun, zu dem Mittel, durch pba_375.005 Kunst die Geister nach seinem Willen zu zwingen, die dunkeln und pba_375.006 wunderbaren Kräfte der Phantasie sich unterthan zu machen. Noch ist pba_375.007 dies Gebiet wüst, unangebaut; was findet er dort vor? Jene Kräfte, pba_375.008 welche die Kunst zu heilsamster Übung erzieht, sind auch zuvor in starker pba_375.009 Thätigkeit; aber sich selbst überlassen, sind sie verwildert und wirken pba_375.010 höchst unheilvoll. Die Hexe Sycorax, die Mond und Flut bezwingt, pba_375.011 ist das Bild des wüsten, dunkeln Wahnes, der in der langen Nacht pba_375.012 des Mittelalters dem „gift'gen Moor“ der Unwissenheit und Trägheit, pba_375.013 der rohen Sinnlichkeit und feigen Angst entstieg; Bosheit und Sünde pba_375.014 gesellen sich ihr zu: mit jener Hexe erzeugt der Teufel das groteske pba_375.015 Gebilde des sklavisch niedrigen Aberglaubens. Häßlich, abschreckend pba_375.016 von Gestalt, tierisch und gefährlich in seinen Äußerungen, pba_375.017 von Angst erfüllt und Angst denen erregend, denen er überlegen ist, pba_375.018 den seiner Macht Entzogenen ein Gegenstand der Verachtung und des pba_375.019 Hohnes, ist Caliban das unübertrefflich erfundene Symbol dieser pba_375.020 kranken Ausgeburt verwilderter Phantasie: ein „gift'ger Sklav“ dem pba_375.021 weisen Prospero, ein „Mondkalb“ und „Monstrum“ dem trunkenen pba_375.022 Stephano, dem schwachköpfigen Trinculo ein Schreckensgebild und eine pba_375.023 „marktbare Kuriosität“ den weltmännischen Kavalieren des Hofes.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/393>, abgerufen am 25.11.2024.
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