Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_357.001
veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes pba_357.002
ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende pba_357.003
Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische pba_357.004
"Neigen von Herzen zu Herzen", in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen pba_357.005
doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft pba_357.006
zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine pba_357.007
treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in pba_357.008
der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für pba_357.009
Lili bestimmte Exemplar schrieb:

pba_357.010
Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe pba_357.011
Ein Herz das andre zieht, pba_357.012
Und daß vergebens Liebe pba_357.013
Vor Liebe flieht!

pba_357.014
Das Schicksalswalten, das zum Bewußtsein und zur pba_357.015
Empfindung zu bringen
die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist, pba_357.016
wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt pba_357.017
ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den pba_357.018
Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen pba_357.019
greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck, pba_357.020
mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das pba_357.021
"Schauspiel" Stella, die "Tragödie" vernichtet ihn, und ohne den pba_357.022
Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen pba_357.023
Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem pba_357.024
Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht pba_357.025
allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach pba_357.026
aufhebt.

pba_357.027
Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden pba_357.028
Resultate:

pba_357.029
Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz, pba_357.030
also durch den rein glücklichen Ausgang, pba_357.031
wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und pba_357.032
der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische pba_357.033
Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden pba_357.034
gestellt, außer in einem einzigen Falle.

pba_357.035
Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte, pba_357.036
daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im pba_357.037
Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie pba_357.038
erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung pba_357.039
aber auf einer Verkennung beruht, welche

pba_357.001
veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes pba_357.002
ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende pba_357.003
Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische pba_357.004
„Neigen von Herzen zu Herzen“, in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen pba_357.005
doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft pba_357.006
zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine pba_357.007
treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in pba_357.008
der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für pba_357.009
Lili bestimmte Exemplar schrieb:

pba_357.010
Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe pba_357.011
Ein Herz das andre zieht, pba_357.012
Und daß vergebens Liebe pba_357.013
Vor Liebe flieht!

pba_357.014
Das Schicksalswalten, das zum Bewußtsein und zur pba_357.015
Empfindung zu bringen
die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist, pba_357.016
wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt pba_357.017
ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den pba_357.018
Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen pba_357.019
greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck, pba_357.020
mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das pba_357.021
Schauspiel“ Stella, die „Tragödie“ vernichtet ihn, und ohne den pba_357.022
Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen pba_357.023
Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem pba_357.024
Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht pba_357.025
allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach pba_357.026
aufhebt.

pba_357.027
Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden pba_357.028
Resultate:

pba_357.029
Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz, pba_357.030
also durch den rein glücklichen Ausgang, pba_357.031
wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und pba_357.032
der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische pba_357.033
Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden pba_357.034
gestellt, außer in einem einzigen Falle.

pba_357.035
Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte, pba_357.036
daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im pba_357.037
Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie pba_357.038
erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung pba_357.039
aber auf einer Verkennung beruht, welche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0375" n="357"/><lb n="pba_357.001"/>
veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes <lb n="pba_357.002"/>
ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende <lb n="pba_357.003"/>
Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische <lb n="pba_357.004"/>
&#x201E;Neigen von Herzen zu Herzen&#x201C;, in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen <lb n="pba_357.005"/>
doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft <lb n="pba_357.006"/>
zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine <lb n="pba_357.007"/>
treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in <lb n="pba_357.008"/>
der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für <lb n="pba_357.009"/>
Lili bestimmte Exemplar schrieb:</p>
        <lb n="pba_357.010"/>
        <lg>
          <l>Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe</l>
          <lb n="pba_357.011"/>
          <l>Ein Herz das andre zieht,</l>
          <lb n="pba_357.012"/>
          <l>Und daß vergebens Liebe</l>
          <lb n="pba_357.013"/>
          <l>Vor Liebe flieht!</l>
        </lg>
        <p><lb n="pba_357.014"/>
Das <hi rendition="#g">Schicksalswalten,</hi> das zum <hi rendition="#g">Bewußtsein und zur <lb n="pba_357.015"/>
Empfindung zu bringen</hi> die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist, <lb n="pba_357.016"/>
wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt <lb n="pba_357.017"/>
ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den <lb n="pba_357.018"/>
Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen <lb n="pba_357.019"/>
greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck, <lb n="pba_357.020"/>
mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das <lb n="pba_357.021"/>
&#x201E;<hi rendition="#g">Schauspiel</hi>&#x201C; Stella, die &#x201E;<hi rendition="#g">Tragödie</hi>&#x201C; vernichtet ihn, und ohne den <lb n="pba_357.022"/>
Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen <lb n="pba_357.023"/>
Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem <lb n="pba_357.024"/>
Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht <lb n="pba_357.025"/>
allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach <lb n="pba_357.026"/>
aufhebt.</p>
        <p><lb n="pba_357.027"/>
Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden <lb n="pba_357.028"/>
Resultate:</p>
        <p>
          <lb n="pba_357.029"/> <hi rendition="#g">Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz, <lb n="pba_357.030"/>
also durch den rein glücklichen Ausgang, <lb n="pba_357.031"/>
wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und <lb n="pba_357.032"/>
der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische <lb n="pba_357.033"/>
Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden <lb n="pba_357.034"/>
gestellt, außer in einem einzigen Falle.</hi> </p>
        <p>
          <lb n="pba_357.035"/> <hi rendition="#g">Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte, <lb n="pba_357.036"/>
daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im <lb n="pba_357.037"/>
Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie <lb n="pba_357.038"/>
erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung <lb n="pba_357.039"/>
aber auf einer Verkennung beruht, welche
</hi> </p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[357/0375] pba_357.001 veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes pba_357.002 ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende pba_357.003 Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische pba_357.004 „Neigen von Herzen zu Herzen“, in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen pba_357.005 doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft pba_357.006 zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine pba_357.007 treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in pba_357.008 der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für pba_357.009 Lili bestimmte Exemplar schrieb: pba_357.010 Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe pba_357.011 Ein Herz das andre zieht, pba_357.012 Und daß vergebens Liebe pba_357.013 Vor Liebe flieht! pba_357.014 Das Schicksalswalten, das zum Bewußtsein und zur pba_357.015 Empfindung zu bringen die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist, pba_357.016 wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt pba_357.017 ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den pba_357.018 Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen pba_357.019 greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck, pba_357.020 mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das pba_357.021 „Schauspiel“ Stella, die „Tragödie“ vernichtet ihn, und ohne den pba_357.022 Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen pba_357.023 Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem pba_357.024 Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht pba_357.025 allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach pba_357.026 aufhebt. pba_357.027 Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden pba_357.028 Resultate: pba_357.029 Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz, pba_357.030 also durch den rein glücklichen Ausgang, pba_357.031 wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und pba_357.032 der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische pba_357.033 Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden pba_357.034 gestellt, außer in einem einzigen Falle. pba_357.035 Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte, pba_357.036 daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im pba_357.037 Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie pba_357.038 erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung pba_357.039 aber auf einer Verkennung beruht, welche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/375
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/375>, abgerufen am 22.11.2024.