pba_352.001 gegen die Komödie hin festzustellen und es ist weiter zu untersuchen, ob pba_352.002 für das so umschriebene Gebiet ein bestimmtes gemeinsames Prinzip pba_352.003 existiert, welches eine besondere, klar zu definierende Gattung konstituiert.
pba_352.004 Diejenigen sogenannten "Schauspiele", die an die Tragödie pba_352.005 zunächst angrenzen, werden nach den obigen Bestimmungen von der Art pba_352.006 der ethischen Tragödie sein, d. h. solcher, wo das die Befürchtungen pba_352.007 und mitleidigen Empfindungen erregende Schicksal zum überwiegenden pba_352.008 Teile durch die Gesinnungsweise des Handelnden bestimmt wird, ohne pba_352.009 dieselbe also eben gar kein tragisches Element in sich haben würde. pba_352.010 Hier sind nun wieder zwei Hauptfälle zu unterscheiden: daß nämlich pba_352.011 erstens die ethische Fehlerhaftigkeit des Handelnden ihre vollen Konsequenzen pba_352.012 nach sich zieht, diese Konsequenzen aber an sich nicht verderblicher pba_352.013 Natur sind, sondern für einen Andern zwar wohl unerwünscht, pba_352.014 aber erträglich, für die Gesinnungsweise des Handelnden aber pba_352.015 derart, daß sie sein persönliches Glück zerstören. Man sieht, hier pba_352.016 liegt ein im strengen Sinne tragischer Fall nicht vor, aber pba_352.017 der Fall nähert sich der wirklichen Tragödie so sehr, daß ihre Bedingungen pba_352.018 für alle diejenigen, welche sich völlig in die Gesinnungsweise pba_352.019 des Handelnden zu versetzen vermögen, allerdings pba_352.020 erfüllt werden. Dieser Fall ist, als in einem klassischen pba_352.021 Musterbeispiel, in Goethes "Tasso" vertreten.
pba_352.022 Ähnlich liegt der Fall in Goethes "Götz", den der Dichter in pba_352.023 der späteren Bearbeitung gleichfalls "ein Schauspiel" nennt. Das tragische pba_352.024 Element des Stückes liegt in dem Widerstreit von Götzens Gesinnungs- pba_352.025 und Denkweise gegen die Bedingungen seiner Zeit, worin pba_352.026 Richtiges und Berechtigtes mit Unberechtigtem und Fehlerhaftem in pba_352.027 nahezu gleichen Teilen vermischt ist, der aber die Wirkung hat, sein pba_352.028 Leben zu einer ununterbrochenen Kette von Unglücksfällen und Mißerfolgen pba_352.029 zu gestalten. Wäre dieses Verhältnis in eine einzige entscheidende pba_352.030 Handlung zusammengedrängt, die aus demselben ein verderbliches Schicksal pba_352.031 hervorgehen ließe, so wie es z. B. unter im Uebrigen gänzlich verschiedenen pba_352.032 Umständen, aber mit ähnlichem Grundverhältnis zwischen dem pba_352.033 Ethos des Handelnden und seinem Schicksal, in Shakespearespba_352.034 "Coriolan" geschieht, so läge der Stoff zu einer echten Tragödie vor. pba_352.035 Das geschieht aber nicht; Götz von Berlichingen stirbt eines natürlichen pba_352.036 Todes, freilich so, daß sein Lebensmut und seine Lebenshoffnung durch pba_352.037 eine lange Reihe einzelner Widerwärtigkeiten, die ihm von überall her pba_352.038 begegnen, gebrochen sind. Daß die Dichtung in den Nebenhandlungen pba_352.039 von tragischem Stoff überfüllt ist, ändert an der Thatsache nichts, daß pba_352.040 die tragische Decision und Energie der Haupthandlung mangelt.
pba_352.001 gegen die Komödie hin festzustellen und es ist weiter zu untersuchen, ob pba_352.002 für das so umschriebene Gebiet ein bestimmtes gemeinsames Prinzip pba_352.003 existiert, welches eine besondere, klar zu definierende Gattung konstituiert.
pba_352.004 Diejenigen sogenannten „Schauspiele“, die an die Tragödie pba_352.005 zunächst angrenzen, werden nach den obigen Bestimmungen von der Art pba_352.006 der ethischen Tragödie sein, d. h. solcher, wo das die Befürchtungen pba_352.007 und mitleidigen Empfindungen erregende Schicksal zum überwiegenden pba_352.008 Teile durch die Gesinnungsweise des Handelnden bestimmt wird, ohne pba_352.009 dieselbe also eben gar kein tragisches Element in sich haben würde. pba_352.010 Hier sind nun wieder zwei Hauptfälle zu unterscheiden: daß nämlich pba_352.011 erstens die ethische Fehlerhaftigkeit des Handelnden ihre vollen Konsequenzen pba_352.012 nach sich zieht, diese Konsequenzen aber an sich nicht verderblicher pba_352.013 Natur sind, sondern für einen Andern zwar wohl unerwünscht, pba_352.014 aber erträglich, für die Gesinnungsweise des Handelnden aber pba_352.015 derart, daß sie sein persönliches Glück zerstören. Man sieht, hier pba_352.016 liegt ein im strengen Sinne tragischer Fall nicht vor, aber pba_352.017 der Fall nähert sich der wirklichen Tragödie so sehr, daß ihre Bedingungen pba_352.018 für alle diejenigen, welche sich völlig in die Gesinnungsweise pba_352.019 des Handelnden zu versetzen vermögen, allerdings pba_352.020 erfüllt werden. Dieser Fall ist, als in einem klassischen pba_352.021 Musterbeispiel, in Goethes „Tasso“ vertreten.
pba_352.022 Ähnlich liegt der Fall in Goethes „Götz“, den der Dichter in pba_352.023 der späteren Bearbeitung gleichfalls „ein Schauspiel“ nennt. Das tragische pba_352.024 Element des Stückes liegt in dem Widerstreit von Götzens Gesinnungs- pba_352.025 und Denkweise gegen die Bedingungen seiner Zeit, worin pba_352.026 Richtiges und Berechtigtes mit Unberechtigtem und Fehlerhaftem in pba_352.027 nahezu gleichen Teilen vermischt ist, der aber die Wirkung hat, sein pba_352.028 Leben zu einer ununterbrochenen Kette von Unglücksfällen und Mißerfolgen pba_352.029 zu gestalten. Wäre dieses Verhältnis in eine einzige entscheidende pba_352.030 Handlung zusammengedrängt, die aus demselben ein verderbliches Schicksal pba_352.031 hervorgehen ließe, so wie es z. B. unter im Uebrigen gänzlich verschiedenen pba_352.032 Umständen, aber mit ähnlichem Grundverhältnis zwischen dem pba_352.033 Ethos des Handelnden und seinem Schicksal, in Shakespearespba_352.034 „Coriolan“ geschieht, so läge der Stoff zu einer echten Tragödie vor. pba_352.035 Das geschieht aber nicht; Götz von Berlichingen stirbt eines natürlichen pba_352.036 Todes, freilich so, daß sein Lebensmut und seine Lebenshoffnung durch pba_352.037 eine lange Reihe einzelner Widerwärtigkeiten, die ihm von überall her pba_352.038 begegnen, gebrochen sind. Daß die Dichtung in den Nebenhandlungen pba_352.039 von tragischem Stoff überfüllt ist, ändert an der Thatsache nichts, daß pba_352.040 die tragische Decision und Energie der Haupthandlung mangelt.
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[352/0370]
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/370>, abgerufen am 22.11.2024.
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