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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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verhältnismäßig geringe Äußerlichkeiten unterbrochene Continuität und pba_308.002
großartige Einheitlichkeit erkennen.1



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XVIII.

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Es ist bekannt, wie in der Entwickelung der Dichtung das deutsche pba_308.005
Volksepos gegen die Überwucherung der ritterlich-romantischen Dichtung pba_308.006
sich nicht zu behaupten vermochte, ja wie die Stoffe desselben zuletzt

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Aber selbst was hier schwereres Bedenken erregt hat, erscheint nicht stichhaltig. pba_308.008
Es mögen drei der wesentlichsten Punkte in Betracht genommen werden: 1) Die von pba_308.009
Lachmann mit XVI, c und XVII, b bezeichneten Lieder sollen denselben Gegenstand pba_308.010
behandeln und daher einander ausschließen, weil in beiden von einem durch Chriemhild pba_308.011
veranlaßten Angriffsversuch der Heunen erzählt wird, der beidemale aus Furcht vor pba_308.012
Hagen und Volker unterbleibt. Jn der bloßen Wiederholung eines mißglückten Versuchs pba_308.013
liegt doch kein Grund dazu; ebensowenig darin, daß beidemale Hagen es ist, pba_308.014
welcher ihn abweist, da doch gegen ihn allein zunächst Chriemhildens Angriffe sich richten. pba_308.015
Dächte man in der That sich eine größere Anzahl den Gegenstand behandelnder Lieder, pba_308.016
so hätte abermals der Dichter mit großer Einsicht sein Material gewählt; die so erreichte pba_308.017
Steigerung ist geradezu unentbehrlich zu nennen. Noch meint es Chriemhild so pba_308.018
wenden zu können, daß Hagen allein von ihrer Rache gefällt wird: welch eine herrliche pba_308.019
Scene, wie sie nun durch ihr persönliches Auftreten den offenen Streit mit ihm zu pba_308.020
erregen sucht (vgl. 1702 und 3, 1708 und 9, 1725-27); dagegen dann der grimmige pba_308.021
Trotz des gewaltigen Helden (1714-24), mit dem er die Gefahr erkennend und sie pba_308.022
kühn herausfordernd zugleich ihr am besten begegnet. So muß nun die Königin zu pba_308.023
schlimmeren Mitteln ihre Zuflucht nehmen. Schon bei dem Heimgange am Abende pba_308.024
werden die Burgunden von drohenden Scharen der Heunen umdrängt (vgl. 1758-61), pba_308.025
dann folgt in der Nacht der heimtückische Überfall, den die Wachsamkeit Hagens und pba_308.026
Volkers vereitelt. Wie der Dichter es verstanden hat, den beiden Scenen bei der Ähnlichkeit pba_308.027
ihres Jnhaltes Mannigfaltigkeit und jeder ein ganz eigenartiges Gepräge zu pba_308.028
verleihen, der ersten durch die persönliche Begegnung zwischen Chriemhild und Hagen, pba_308.029
wo gleichsam mit eins der ganze Horizont sich mit drohenden schwarzen Wetterwolken pba_308.030
bedeckt, und wie er dann in der zweiten dem ersten Zucken der unheimlichen Blitze jenes pba_308.031
Bild voll der höchsten Anmut vorangehen läßt -- Hagen und Volker die Schildwacht pba_308.032
haltend und Volker die Helden in den Schlaf geigend --, wäre überflüssig des Näheren pba_308.033
auszuführen. Das letzte Mittel ist fehlgeschlagen: nun bleibt nur der offene Kampf pba_308.034
gegen alle. Vgl. 1786: pba_308.035
do fuogte si ez anders: vil grimmer was ir muot. pba_308.036
des muosen seit verderben helde küene unde guot.
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2) "Sogar die Beziehungen, welche die Fabel selbst bedingt, sind ohne Sorgfalt durchgeführt: pba_308.038
wenn z. B. Jring auftritt und, offenbar mit Liebe geschildert, gleich nach pba_308.039
seinem Tode gänzlich vergessen wird," heißt es bei Lachmann in den Anmerkungen S. 1. pba_308.040
Als ob es, wie schon oben ausgeführt, die Sache des Epos wäre, statt sich strengstens

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verhältnismäßig geringe Äußerlichkeiten unterbrochene Continuität und pba_308.002
großartige Einheitlichkeit erkennen.1



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XVIII.

pba_308.004
Es ist bekannt, wie in der Entwickelung der Dichtung das deutsche pba_308.005
Volksepos gegen die Überwucherung der ritterlich-romantischen Dichtung pba_308.006
sich nicht zu behaupten vermochte, ja wie die Stoffe desselben zuletzt

1 pba_308.007
Aber selbst was hier schwereres Bedenken erregt hat, erscheint nicht stichhaltig. pba_308.008
Es mögen drei der wesentlichsten Punkte in Betracht genommen werden: 1) Die von pba_308.009
Lachmann mit XVI, c und XVII, b bezeichneten Lieder sollen denselben Gegenstand pba_308.010
behandeln und daher einander ausschließen, weil in beiden von einem durch Chriemhild pba_308.011
veranlaßten Angriffsversuch der Heunen erzählt wird, der beidemale aus Furcht vor pba_308.012
Hagen und Volker unterbleibt. Jn der bloßen Wiederholung eines mißglückten Versuchs pba_308.013
liegt doch kein Grund dazu; ebensowenig darin, daß beidemale Hagen es ist, pba_308.014
welcher ihn abweist, da doch gegen ihn allein zunächst Chriemhildens Angriffe sich richten. pba_308.015
Dächte man in der That sich eine größere Anzahl den Gegenstand behandelnder Lieder, pba_308.016
so hätte abermals der Dichter mit großer Einsicht sein Material gewählt; die so erreichte pba_308.017
Steigerung ist geradezu unentbehrlich zu nennen. Noch meint es Chriemhild so pba_308.018
wenden zu können, daß Hagen allein von ihrer Rache gefällt wird: welch eine herrliche pba_308.019
Scene, wie sie nun durch ihr persönliches Auftreten den offenen Streit mit ihm zu pba_308.020
erregen sucht (vgl. 1702 und 3, 1708 und 9, 1725–27); dagegen dann der grimmige pba_308.021
Trotz des gewaltigen Helden (1714–24), mit dem er die Gefahr erkennend und sie pba_308.022
kühn herausfordernd zugleich ihr am besten begegnet. So muß nun die Königin zu pba_308.023
schlimmeren Mitteln ihre Zuflucht nehmen. Schon bei dem Heimgange am Abende pba_308.024
werden die Burgunden von drohenden Scharen der Heunen umdrängt (vgl. 1758–61), pba_308.025
dann folgt in der Nacht der heimtückische Überfall, den die Wachsamkeit Hagens und pba_308.026
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haltend und Volker die Helden in den Schlaf geigend —, wäre überflüssig des Näheren pba_308.033
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gegen alle. Vgl. 1786: pba_308.035
dô fuogte si ez anders: vil grimmer was ir muot. pba_308.036
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2) „Sogar die Beziehungen, welche die Fabel selbst bedingt, sind ohne Sorgfalt durchgeführt: pba_308.038
wenn z. B. Jring auftritt und, offenbar mit Liebe geschildert, gleich nach pba_308.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/326>, abgerufen am 25.11.2024.