Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_298.001
Einheitsmittelpunkt des Liedes von der "Nibelungen Not" ist ein ganz pba_298.002
anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv pba_298.003
von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde, pba_298.004
worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus.
Die neue pba_298.005
Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles, pba_298.006
und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig pba_298.007
veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu pba_298.008
machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu pba_298.009
einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird, pba_298.010
wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet;
pba_298.011
hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen pba_298.012
Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer pba_298.013
übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin pba_298.014
unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in pba_298.015
tragische Hamartie verwickelt.

pba_298.016
Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die pba_298.017
sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des pba_298.018
Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not. pba_298.019
Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle pba_298.020
Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte pba_298.021
Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter pba_298.022
wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden pba_298.023
Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs pba_298.024
ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht pba_298.025
und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine pba_298.026
Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen pba_298.027
erscheint.

pba_298.028
,nie keiser wart so riche, der wolde haben weip, pba_298.029
in zaeme wol ze minne der reichen küniginne leip'
pba_298.030

läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann pba_298.031
gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt, pba_298.032
heißt es (Str. 51):

pba_298.033
ez was im harte leit, pba_298.034
daz er werben wolde die vil herleichen meit.
pba_298.035

Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56:

pba_298.036
,Waz mag uns gewerren?' sprach do Seifrit. pba_298.037
,waz ich friuntleiche niht ab in erbit, pba_298.038
daz mac sus erwerben mit ellen da mein hant. pba_298.039
ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant.'

pba_298.001
Einheitsmittelpunkt des Liedes von der „Nibelungen Not“ ist ein ganz pba_298.002
anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv pba_298.003
von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde, pba_298.004
worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus.
Die neue pba_298.005
Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles, pba_298.006
und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig pba_298.007
veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu pba_298.008
machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu pba_298.009
einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird, pba_298.010
wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet;
pba_298.011
hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen pba_298.012
Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer pba_298.013
übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin pba_298.014
unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in pba_298.015
tragische Hamartie verwickelt.

pba_298.016
Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die pba_298.017
sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des pba_298.018
Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not. pba_298.019
Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle pba_298.020
Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte pba_298.021
Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter pba_298.022
wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden pba_298.023
Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs pba_298.024
ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht pba_298.025
und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine pba_298.026
Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen pba_298.027
erscheint.

pba_298.028
nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp, pba_298.029
in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp
pba_298.030

läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann pba_298.031
gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt, pba_298.032
heißt es (Str. 51):

pba_298.033
ez was im harte leit, pba_298.034
daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit.
pba_298.035

Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56:

pba_298.036
Waz mag uns gewerren?‘ sprach dô Sîfrit. pba_298.037
‚waz ich friuntlîche niht ab in erbit, pba_298.038
daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant. pba_298.039
ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant.‘
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0316" n="298"/><lb n="pba_298.001"/>
Einheitsmittelpunkt des Liedes von der &#x201E;Nibelungen Not&#x201C; ist ein ganz <lb n="pba_298.002"/>
anderer geworden wie der des alten Mythus und <hi rendition="#g">schließt das Motiv <lb n="pba_298.003"/>
von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde, <lb n="pba_298.004"/>
worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus.</hi> Die neue <lb n="pba_298.005"/>
Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles, <lb n="pba_298.006"/>
und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig <lb n="pba_298.007"/>
veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu <lb n="pba_298.008"/>
machen. Dort ist der Gegenstand: <hi rendition="#g">die Liebe eines Halbgottes zu <lb n="pba_298.009"/>
einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird, <lb n="pba_298.010"/>
wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet;</hi> <lb n="pba_298.011"/>
hier ist es <hi rendition="#g">die wandellose Treue der echtesten menschlichen <lb n="pba_298.012"/>
Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer <lb n="pba_298.013"/>
übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin <lb n="pba_298.014"/>
unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in <lb n="pba_298.015"/>
tragische Hamartie verwickelt.</hi></p>
        <p><lb n="pba_298.016"/><hi rendition="#g">Chriemhild</hi> ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die <lb n="pba_298.017"/>
sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des <lb n="pba_298.018"/>
Ganzen an: <hi rendition="#g">aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not.</hi> <lb n="pba_298.019"/>
Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle <lb n="pba_298.020"/>
Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte <lb n="pba_298.021"/>
Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter <lb n="pba_298.022"/>
wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden <lb n="pba_298.023"/>
Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs <lb n="pba_298.024"/>
ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht <lb n="pba_298.025"/>
und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine <lb n="pba_298.026"/>
Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen <lb n="pba_298.027"/>
erscheint.</p>
        <lb n="pba_298.028"/>
        <lg>
          <l>&#x201A;<hi rendition="#aq">nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp,</hi></l>
          <lb n="pba_298.029"/>
          <l><hi rendition="#aq">in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp</hi>&#x2018;</l>
        </lg>
        <lb n="pba_298.030"/>
        <p>läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann <lb n="pba_298.031"/>
gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt, <lb n="pba_298.032"/>
heißt es (Str. 51):</p>
        <lb n="pba_298.033"/>
        <lg>
          <l> <hi rendition="#aq">ez was im harte leit,</hi> </l>
          <lb n="pba_298.034"/>
          <l><hi rendition="#aq">daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit</hi>.</l>
        </lg>
        <lb n="pba_298.035"/>
        <p>Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56:</p>
        <lb n="pba_298.036"/>
        <lg>
          <l>&#x201A;<hi rendition="#aq">Waz mag uns gewerren?&#x2018; sprach dô Sîfrit.</hi></l>
          <lb n="pba_298.037"/>
          <l> <hi rendition="#aq">&#x201A;waz ich friuntlîche niht ab in erbit,</hi> </l>
          <lb n="pba_298.038"/>
          <l> <hi rendition="#aq">daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant.</hi> </l>
          <lb n="pba_298.039"/>
          <l><hi rendition="#aq">ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant</hi>.&#x2018;</l>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0316] pba_298.001 Einheitsmittelpunkt des Liedes von der „Nibelungen Not“ ist ein ganz pba_298.002 anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv pba_298.003 von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde, pba_298.004 worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus. Die neue pba_298.005 Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles, pba_298.006 und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig pba_298.007 veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu pba_298.008 machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu pba_298.009 einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird, pba_298.010 wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet; pba_298.011 hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen pba_298.012 Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer pba_298.013 übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin pba_298.014 unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in pba_298.015 tragische Hamartie verwickelt. pba_298.016 Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die pba_298.017 sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des pba_298.018 Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not. pba_298.019 Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle pba_298.020 Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte pba_298.021 Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter pba_298.022 wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden pba_298.023 Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs pba_298.024 ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht pba_298.025 und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine pba_298.026 Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen pba_298.027 erscheint. pba_298.028 ‚nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp, pba_298.029 in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp‘ pba_298.030 läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann pba_298.031 gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt, pba_298.032 heißt es (Str. 51): pba_298.033 ez was im harte leit, pba_298.034 daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit. pba_298.035 Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56: pba_298.036 ‚Waz mag uns gewerren?‘ sprach dô Sîfrit. pba_298.037 ‚waz ich friuntlîche niht ab in erbit, pba_298.038 daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant. pba_298.039 ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant.‘

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/316
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/316>, abgerufen am 25.11.2024.