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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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lich vorbereitenden oder den Zusammenhang vermittelnden pba_294.002
Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen pba_294.003
sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte, pba_294.004
wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos pba_294.005
behandelt sind;
denn an und für sich genommen, wäre ein pba_294.006
solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber pba_294.007
wie müßte dasselbe ausgesehen haben? Kann es irgend jemand zweifelhaft pba_294.008
sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und pba_294.009
Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes pba_294.010
willen gesungen worden sein müßte? Diese also in gegenständlichster pba_294.011
Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf pba_294.012
irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen pba_294.013
wäre. Aus anderm Grunde wird der Sachsenkrieg, der schlechterdings pba_294.014
nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das pba_294.015
Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede pba_294.016
schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der pba_294.017
Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer, pba_294.018
von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf pba_294.019
dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche pba_294.020
Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart.

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Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig pba_294.022
Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder-Theorie Lachmanns pba_294.023
entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch pba_294.024
die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen pba_294.025
einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete pba_294.026
Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame pba_294.027
Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen pba_294.028
und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen pba_294.029
Palastes geschaffen würde.

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Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen pba_294.031
Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und pba_294.032
ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung pba_294.033
aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel pba_294.034
ihm den Stoff und noch mehr die mächtig wirkende Anregung zu seinem pba_294.035
Epos gewährte, so überkam er sicherlich damit auch die Form, und bei pba_294.036
vielen und zwar den bedeutsamsten Punkten stellten aus der ihn umschwebenden pba_294.037
Fülle sich ihm kleinere oder auch größere Partien ein, die pba_294.038
er als fertige Werkstücke seinem Bau einzufügen vermochte. Bis so pba_294.039
weit würde man von der Hypothese Lachmanns freilich noch nicht so pba_294.040
sehr wesentlich abgewichen sein; aber die Hauptsache ist diese: nimmer-

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Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen pba_294.003
sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte, pba_294.004
wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos pba_294.005
behandelt sind;
denn an und für sich genommen, wäre ein pba_294.006
solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber pba_294.007
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sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und pba_294.009
Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes pba_294.010
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Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf pba_294.012
irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen pba_294.013
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nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das pba_294.015
Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede pba_294.016
schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der pba_294.017
Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer, pba_294.018
von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf pba_294.019
dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche pba_294.020
Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart.

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Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig pba_294.022
Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder-Theorie Lachmanns pba_294.023
entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch pba_294.024
die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen pba_294.025
einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete pba_294.026
Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame pba_294.027
Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen pba_294.028
und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen pba_294.029
Palastes geschaffen würde.

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Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen pba_294.031
Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und pba_294.032
ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung pba_294.033
aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel pba_294.034
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[294/0312] pba_294.001 lich vorbereitenden oder den Zusammenhang vermittelnden pba_294.002 Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen pba_294.003 sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte, pba_294.004 wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos pba_294.005 behandelt sind; denn an und für sich genommen, wäre ein pba_294.006 solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber pba_294.007 wie müßte dasselbe ausgesehen haben? Kann es irgend jemand zweifelhaft pba_294.008 sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und pba_294.009 Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes pba_294.010 willen gesungen worden sein müßte? Diese also in gegenständlichster pba_294.011 Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf pba_294.012 irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen pba_294.013 wäre. Aus anderm Grunde wird der Sachsenkrieg, der schlechterdings pba_294.014 nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das pba_294.015 Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede pba_294.016 schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der pba_294.017 Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer, pba_294.018 von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf pba_294.019 dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche pba_294.020 Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart. pba_294.021 Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig pba_294.022 Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder-Theorie Lachmanns pba_294.023 entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch pba_294.024 die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen pba_294.025 einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete pba_294.026 Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame pba_294.027 Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen pba_294.028 und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen pba_294.029 Palastes geschaffen würde. pba_294.030 Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen pba_294.031 Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und pba_294.032 ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung pba_294.033 aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel pba_294.034 ihm den Stoff und noch mehr die mächtig wirkende Anregung zu seinem pba_294.035 Epos gewährte, so überkam er sicherlich damit auch die Form, und bei pba_294.036 vielen und zwar den bedeutsamsten Punkten stellten aus der ihn umschwebenden pba_294.037 Fülle sich ihm kleinere oder auch größere Partien ein, die pba_294.038 er als fertige Werkstücke seinem Bau einzufügen vermochte. Bis so pba_294.039 weit würde man von der Hypothese Lachmanns freilich noch nicht so pba_294.040 sehr wesentlich abgewichen sein; aber die Hauptsache ist diese: nimmer-

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/312>, abgerufen am 22.11.2024.