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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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strenge Einheit kann durch nichts anderes gegeben werden, als durch pba_287.002
die Vorführung eines Schicksalsvollzuges, der geeignet ist, die reinen pba_287.003
Schicksalsempfindungen zu erzeugen. Es ist nicht so sehr der fehlende pba_287.004
Abschluß,
der diesen Mangel fühlbar macht, als vielmehr die Abwesenheit pba_287.005
des tragischen Bewußtseins bei dem Dichter, das schon pba_287.006
bei der Anlage der Handlung vorausdeutend sich kundgeben und ihren pba_287.007
Fortgang überall erfüllen müßte. Dieses höchste Einheitsgefühl, wie pba_287.008
es z. B. in dem Nibelungenliede mit lebendigster Kraft wirksam ist und pba_287.009
wie es aus dem immerfort gegenwärtigen Bewußtsein des Schicksalsverlaufs pba_287.010
ganz ohne Theorie einfach und mit Notwendigkeit entspringt, vermag pba_287.011
auch allein das überflüssige und darum schädliche Episodenbeiwerk pba_287.012
des Rohstoffes auszuscheiden und die entstellenden Züge, die störenden pba_287.013
Elemente desselben hinwegzuläutern. Ein merkwürdiges Zeugnis, wie pba_287.014
unkritisch und des Wesentlichsten ahnungslos Meister Gottfried und sein pba_287.015
Publikum noch dem Stoff gegenüberstanden, ist die Unbefangenheit, mit pba_287.016
der er im achtzehnten Abschnitte den entsetzlichen Mordanschlag Jsoldens pba_287.017
gegen ihre getreue Brangäne berichtet, die ihr eben das höchste Opfer pba_287.018
gebracht hat, ein Mordanschlag, dem von seiten der Anstifterin nichts pba_287.019
zur That fehlt; und diese Unthat ist nicht allein in der Ökonomie der pba_287.020
Handlung ohne alle Bedeutung, sie kann ohne weiteres einfach gestrichen pba_287.021
werden, sondern, was viel schlimmer ist, sie bleibt auch sittlich und pba_287.022
psychologisch ohne alle Konsequenzen, sie vermag weder dem Dichter das pba_287.023
glänzende Bild seiner Heldin zu trüben, noch hat sie irgend einen Einfluß pba_287.024
auf ihr Schicksal, was selbst in dem primitivsten Märchen unerhört pba_287.025
sein würde. Die einzige Reflexion, zu der sich der Dichter bei pba_287.026
dieser Affaire im Vorübergehen herbeiläßt, ist die folgende (s. v. 12713 ff.):

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diu sorchafte Künigein pba_287.028
diu tete an disen dingen schein, pba_287.029
daz man laster unde spot pba_287.030
mere fürhtet danne got.

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Umgekehrt liegt das Verhältnis in Wolframs "Parzival": vor pba_287.032
Allem ist dem Dichter die Durchführung des Schicksalsverlaufs angelegen,

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der leschet ane lougen pba_287.034
hunderttusend smerzen pba_287.035
des leibes unde des herzen. pba_287.036
ein kus in liebes munde, pba_287.037
der von des herzen grunde pba_287.038
her auf geslichen kaeme, pba_287.039
ahei, waz der benaeme pba_287.040
seneder sorge und herzenot!
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Mag doch zu löschen taugen pba_287.102
Hunderttausend Schmerzen pba_287.103
Des Leibes und der Herzen. pba_287.104
Ein Kuß von liebem Munde, pba_287.105
Der von des Herzens Grunde pba_287.106
Heraufgedrungen käme, pba_287.107
Ach, wie viel benähme pba_287.108
Der sehnlich Leid und Herzensnot!
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strenge Einheit kann durch nichts anderes gegeben werden, als durch pba_287.002
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/305>, abgerufen am 25.11.2024.